Es gibt in der Medizinsoziologie interessante Untersuchungen zur Vergabe von Organspenden. Wenn es ein Spenderorgan und mehrere Bedürftige gibt, muss entschieden werden, wer das Organ bekommt. Meist geschieht das über eine Warteliste, manchmal aber auch über das Los und oft indirekt über Geld. Wenn nun der Arzt zu dem Patienten geht, der das Organ nicht bekommen hat, wurde erhoben, wie der Patient auf die Erklärung reagiert. Es wurde festgestellt, dass die Patienten, wenn ein Los mit 50/50-Chance gegen sie entschieden hat, damit nicht umgehen konnten. Sie konnten schlechter mit dem Zufall umgehen, als mit sozialen Erklärungen wie: “Der andere hat drei Kinder und du hast dir deine Leber durch das Trinken ruiniert.” Das ist natürlich zugespitzt formuliert. Aber Entscheidungen, die auf irgendwelchen Fakten basieren, sind für die Betroffenen leichter zu verarbeiten als der komplette Zufall, die Willkürlichkeit. Sie können sich an den Gründen abarbeiten, können die Schuld zuweisen und ihre Wut kanalisieren. Das alles ist beim Zufall nicht möglich.
Das gleiche gilt auch für massiven Schneefall und eine einstürzende Eissporthalle (in Bad Reichenhall). Es ist viel einfacher, einen Bürgermeister zu haben, der fahrlässig gehandelt haben soll, als Zufall (massiven Schneefall) als Grund zu akzeptieren. Gerade die Hilflosigkeit, das Hadern mit dem Schicksal führt die Menschen zum Bürgermeister. Er wird zu ihrem therapeutischen Kanal, er ist kein Mensch mehr, sondern die Ursache des Unfalls. Alles was vorher war, was er für die Menschen getan hat, ist irrelevant für diese Arbeit. Er ist nur noch Werkzeug der Traumatherapie. Hoffentlich zerbricht er daran nicht und erkennt seine besondere Funktion und die besondere Situation. Man kann leicht zerbrechen, wenn man solche Sätze hören muss: “Schämen sie sich, sie haben diese Menschen auf dem Gewissen.”