Manchmal erkennt man die eigenen Erwartungen erst in außergewöhnlichen und zugleich banalen Situationen. Die Mensa ist für solche Erfahrungen prädestiniert.
Ich setzte mich in der Mensa mit meinem Essen an einen freien Fensterplatz. Nach einer Weile kam ein Mädchen und ging direkt zum Platz gegenüber. Sie hob ihre Tasche vom Sitz und erklärte damit indirekt, warum sie sich nun genau mir gegenüber setzen musste. Allerdings sah sie mich nicht an. So saßen wir an einem sonst komplett leeren Tisch eigentlich intim gegenüber.
Im Fahrstuhl gibt es den Effekt, dass die Menschen, wenn sie eng aneinander stehen mussten und der Fahrstuhl sich leert, einen Befreiungsschritt machen, um den eigentlich notwendigen Abstand wieder herzustellen. In der Bahn gibt es den ähnlichen Effekt, dass wenn ein Viererabteil voll war und zwei fremde Personen nebeneinander saßen, sie sich bei Freiwerden umsetzen. Beide Parteien wollen das meist und doch kann es befremdlich wirken, weil es auch als Statement aufgefasst werden kann.
In der Mensa ist es nicht möglich sich umzusetzen, dafür sorgt das Essen. Das Essen ist wie eine Sanduhr, sie zeigt die Dauer, die man noch sitzen wird, an. Und wenn man gerade erst mit Essen angefangen hat, kann man lediglich schlingen oder so tun als schmecke es nicht. Ich kostete jedoch den Moment aus. Es war ein so sonderbares Gefühl, im Hochblicken für einen ganz kurzen Moment Nähe zu spüren – die Nähe, die ich sonst mit den Menschen, die mir gegenübersitzen, teile – dann aber im nächsten Moment gegen das eigene Gefühl diese Fremde zu sehen, die mich nicht ein einziges Mal anblickte. Ich wollte bei jedem Hochschauen das Gespräch fortsetzen, das wir nie begonnen hatten. Diesen kurzen Moment des Unbewussten gab es bei jedem Blick auf sie. Ich konnte mich nur sehr langsam daran gewöhnen, obwohl ich es (logischerweise) die ganze Zeit wusste. Ich genoß diesen Moment sehr, da er eine gewisse Natürlichkeit (vielleicht auch nur Sozialisation oder Gewöhnung) offenbarte. Als ich endlich mit Essen fertig war, musste ich zum Abschied sehr lächeln und wagte im Zuge dessen sogar “Tschüss” zu sagen. Sie sah mich – vielleicht erleichtert – das erste Mal an und erwiderte den Abschied. Ob sie ähnliches gedacht hatte, werde ich wohl nie erfahren.
Sie kämpfte jedenfalls, während sie über irgendetwas nachdachte, mit der Panade des Fisches. Das führte mich, nebenbei bemerkt, zu der wichtigen sozialen Unterscheidung zwischen Panade-Freunden und den Panade-Abpulern.