Ärzte spielen in unserem Leben eine schreckliche Rolle. Nur sie haben die Macht des Wissens über unseren Körper, das Wissen um unsere Krankheiten. Gewöhnlicherweise wird das durch eine mögliche Zweitdiagnose, also durch Konkurrenz, ausgeglichen. Das ist aber nicht immer möglich. Meine liebste Augenarztgeschichte dazu.
Kurz bevor ich im vergangenen Jahr meine kleine Deutschlandreise antrat, hatte ich plötzlich irgendetwas am Auge, es war blutunterlaufen und tat weh. Leider fand ich in Jena, als es noch akut war, nicht die Zeit zum Arzt zu gehen, und als ich sie kurz vor der Reise fand, war das Problem nur noch latent vorhanden. Da ich aber Auto fahren musste, bedeutete mir das Sehen meiner Augen doch ein wenig mehr. Ich beschloss also, mich noch auf der ersten Etappe, die nach Konstanz führte, untersuchen zu lassen. Das war wichtig, da ich danach in die Schweiz fahren wollte und falls mein Augenlicht dort enden sollte, es zwar schön, aber ohne Rettungsversuche sterben würde. Also ein Augenarzt im reichen Konstanz.
Als ich die Praxis betrat, sah ich hinter einer Glastür einen Mann auf dem Boden sitzen, der darin vertieft war, eine vor sich stehende Vase mit Steckblumen zu dekorieren. Ein Assistent, dachte ich, aber es war der Arzt persönlich. Er hatte scheinbar Zeit, da es sonst keine anderen Patienten gab. Eine Schwester untersuchte mich zunächst und steckte mir Teststreifen in die Augen. Nach einer Weile kam sie wieder und sagte “Aha”, zeigte mir wieviel Tränenflüssigkeit normale Menschen haben, meinte weiter, dass ich ein trockenes Auge hätte und drückte mir eine Broschüre dazu in die Hand. Etwas irritiert las ich über das Phänomen trockene Augen, von dem ich noch nie zuvor gehört hatte, das aber trotzdem, jetzt wo ich es kenne und auch dazugehöre, wahnsinnig viele Leute betrifft, die es aber scheinbar verschweigen.
Dann kam ich zum Steckblumen-Augenarzt. Er untersuchte mich sehr kurz, sagte aber anstatt einer Diagnose folgenden Satz: “Was würden sie denn da machen, sie kommen doch aus dem Osten?” Plötzlich sprudelte er mit einer Geschichte los, wie er damals einem Augenarzt in Ostdeutschland nach der Wende Ausrüstung (für viel Geld) verschafft hatte und alles was er als Gegenleistung dafür gewollt hatte, war ein Zeitungsartikel über diese positive Tat gewesen (um das schlechte Wessi-Bild zu korrigieren). Der Arzt sei aber undankbar gewesen und habe gemeint, dass dies seine Kundschaft verschrecken würde. Später habe er herausgefunden, dass die Lösung (des nicht formulierten) Rätsels war, dass der Arzt ein Stasi-Mitarbeiter war. Da er gerade in Erzähllaune war, erinnerte er sich auch noch daran, wie er einem Ehepaar aus dem Osten ein Segel organisiert und geschenkt hatte (er war pasionierter Segler), dass sie dann aber, als sie ihn einmal besuchten, sich schrecklich daneben benommen hätten. Ich nickte eifrig und bestätigte, dass das schlimm sei. Ich dachte an den Augentod in der Schweiz und hoffte auf die Diagnose. Aber er hatte auch drei Azubis aus dem Osten gehabt. Der ersten hatte er eine Wohnung besorgt und auch viel geschenkt – sie bedankte sich am letzten Abend, indem sie meinte, er hätte ja wohl auch noch ihre Miete bezahlen können. Die zweite stahl. Die dritte wollte er übernehmen, aber die kam urplötzlich nicht mehr.
Nach den ersten beiden Geschichten hatte ich bereits geahnt, dass ich auch zu einer solchen Geschichte werden musste. So kam es auch. Während ich also auf die Diagnose wartete und er sich locker auf die Untersuchungsapparatur lehnte, wurde meine Rolle ausgeweitet: Vom zufriedenen “Aha”- und “Das ist ja schrecklich”-Sager zum möglichst politisch informierten Ostdeutschen.
Er erzählte von einer Pfarrerin, die er einmal besucht hatte und die ihm vorgeklagt hatte, dass ihre Söhne nicht wüssten, was sie nach dem Studium machen sollten und dass das früher besser war. Er entgegnete in leicht vorstellbarem liberalen Duktus, was sie denn überhaupt von der Kanzel predigen könne, wenn sie nicht einmal diese einfachen Lektionen der Freiheit verstanden hätte. In einer kurzen Erinnerung an mein Magisterstudium und meine Berufsperspektiven bekannte ich, dass ein wenig mehr Orientierung auch nicht schlecht sein müsse. Nun hatte ich meine Rolle ganz offensichtlich verlassen. Er begann, das sei ganz schrecklich gewesen, ganze Lebenswege wurden in der DDR durch die Lebensweg-Planung zerstört, da beispielsweise Kinder von Akademikern nicht studieren durften. Das hatte ich (zu meiner Schande) noch nicht gehört. Das sagte ich auch. Da war es vorbei. An diesem Punkt war ich eine Geschichte für ihn geworden. Ich war das lebende Beispiel für die schlechte DDR-Aufarbeitung im Osten. “Habt ihr denn gar nichts in der Schule gelernt?” empörte er sich und schüttelte den Kopf. Sofort danach erklärte er mir meine Diagnose, so als habe er nur auf diese Pointe gewartet und mit seinen Geschichten nur darauf hingearbeitet. Ich war in seine Falle getappt. Jetzt werden alle Ostdeutschen auch meine Geschichte von ihm hören, bevor sie ihre eigene dort lassen müssen. Immerhin erinnert sich nun jemand in Konstanz an mich, wenn auch nur an meine Dummheit.