Uwe Timm tarnt seine Recherche zum Buch als BuchUwe Timm tarnt seine Recherche zum Buch als Buch
Es ist, als ob man dem Selbstgespräch eines alten Mannes zuhört. Es wird viel gesagt, geradezu geplappert, es werden unzählige Anekdoten aneinandergereiht, einige Pointen vergessen und viele alte Theorien gewälzt. Der Sinn der Rede liegt ausschließlich in ihr selbst, im Schwelgen in der eigenen Erinnerung.
Grundsätzlich soll sich der Monolog „Am Beispiel meines Bruders“ von Uwe Timm um dessen im zweiten Weltkrieg getöteten Bruder drehen. Dessen Tod lag wie ein Schatten über dem Leben der gesamten Familie. Anhand von Tagebuchaufzeichnungen und Briefen versucht Timm die Person, die diesen Schatten warf, mit Leben zu füllen. Er schreibt unverhohlen einen Recherchebericht und buchstabiert jede Frage, die ihn bewegt, haarklein aus. „Wie kommt es zu dieser Einsicht?“ oder „Was waren das für Bilder, die ihn bedrängten?“ Er schwankt zwischen Theoretisieren und Erzählen. Er versucht den Bruder aus dessen Aufzeichnungen zu verstehen, aber auch ihn aus seinem historischen Wissen zu erklären: Wie konnte er skrupellos einen Russen, der sich eine Zigarette anzündete, erschießen und sich zugleich über die Bomberangriffe auf Hamburg aufregen? Gab es zwei Maße der Menschlichkeit?
Timm will am Beispiel seines Bruders den Krieg und dessen Auswirkungen schildern. Am Beispiel seines Bruders schildert er aber vielmehr nur seine eigene private Familiengeschichte. Eine Distanz ist nicht erkennbar, das Buch ist durchsetzt vom realen Ich des Autors. Wenn es Fiktion geben sollte, wäre sie gut versteckt. Und so kann sich das Buch nicht über den Alltag seines Autors erheben.
Nur sehr selten zeigt Timm seine Fähigkeit zu beobachten. Es sind die besten Momenten des Buches. Die Demütigung der Vätergeneration, der langsame Abstieg des Vaters in den Alkohol, die Intimität der Beziehung zu seiner Mutter, mit der noch auf ihrem Sterbebett ein aus der Kindheit bewahrtes „zartes Druckalphabet des Einverständnisses“ teilt. Doch diese prosaischen Elemente bleiben Ausnahmen, banalste Alltagssprache dominiert das Buch. Er schafft es nicht, in seinen persönlichen Schilderungen eine literarische Dichte – wie etwa Max Frisch in „Montauk“ – zu erreichen. Eine Dichte, die dem Leser mehr als nur Wissen um die Timmsche Familiengeschichte gibt.
Als Ersatz für diese Sprache dient der Krieg. Der Zweite Weltkrieg zieht immer. Die mediale Erinnerungskultur a la Guido Knopp war auch gerade auf dem Höhepunkt, als Timm sein Buch 2003 veröffentlichte. Was allerdings „Am Beispiel meines Bruders“ zur Aufarbeitung beitragen kann, ist unklar. Alles, was darin steht, ist nicht neu. Timm selbst nennt sogar die Bücher, in denen man es – besser geschrieben – nachlesen kann. Sein Buch ist nur eine Erinnerung an schon vorhandene Erinnerungen. So schön es ist, wenn sich jemand mit seiner eigenen Familiengeschichte auseinandersetzt, so überflüssig ist es, wenn er sie als Literatur tarnt und auf dem Literaturmarkt verhökert.
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