Ein alter Spruch besagt, wo die Angst sitzt, müsse man hin. Also sollte man auf Türme steigen, wenn man seine Höhenangst überwinden will. Die größte Gefahr besteht darin, sich auf dem Boden sicher zu wähnen und die Höhe zu meiden. Dann wird dort Höhe sein, wo man sie nicht erwartet, dann, wenn man nicht darauf vorbereitet ist.
Schon seit längerem frage ich mich, ob dies auch für zwischenmenschliche Beziehungen gilt. Nur das Schwere ist das Gute. Nur wo du Widerstand spürst, kannst du (mit dir selbst) auch vorankommen. Ein Schmerz ist dann – wie bei einer Massage – ein Indiz für eine Verspannung, die man nur durch beständigen Druck auf ebenjene Stelle wieder lösen kann. Inwieweit der Schmerz nur durch den Druck ausgelöst wurde, lässt sich nicht mehr bestimmen. Aber mit jedem Druck, mit jeder Konfrontation könnte es zugleich lockerer, aber auch schmerzhafter werden. Die Schmerzgrenze verschiebt sich mit der Erfahrung: Man kann nicht mehr auseinanderhalten, ob man langsam lernt mit dem Schmerz umzugehen oder ob sich die Verspannung langsam löst. Die Hoffnung auf Heilung ist immer da, die Angst wegzurennen ebenso.
Dem steht der sogenannte gesunde Egoismus gegenüber: Wenn ich mich nicht wohl fühle, kann es nicht gut sein, also lasse ich es lieber. Man zieht sich dann einseitig aus Beziehungen zurück, ohne zu wissen, ob es nur dem Moment des Gefühls geschuldet war, ohne sich jemals notwendigen Reibungen ausgesetzt oder heilsame Blessuren erlebt zu haben. Ich stand dem immer skeptisch gegenüber.
Daher tendierte ich bisher auch dazu, meine Freunde in das Dickicht der Probleme zu hetzen. Es sollte alles durch Metagespräche lösbar sein.
Aber ich erinnere mich an ein interessantes Gespräch mit einem Freund in der Bibliothek. Er saß vor mir und beschrieb mir, wie eine unglaubliche Aggression und Wut in ihm aufstieg. Wie ein Forscher versuchte ich seine Gefühle zu zerlegen und zu analysieren. Ich spürte, dass da doch ein Punkt war, eine Erkenntnis, die er nur in diesem Zustand erreichen konnte. Meine Aufgabe war es, ihn dorthin zu bringen. So wühlte ich gerade mit beiden Händen in seinem Kopf, als er etwas Entscheidendes sagte. “Manchmal geht es einfach nicht.” Langsam wurde mir bewusst, dass die Psyche kein offenes Land war, in dem man jederzeit überall hin kommen konnte, sondern dass sie eine schwerzugängliche Inseln mit wenigen Zugbrücken war, dass es dort riesige ummauerte Schreine und tief vergrabene Ängste gab, dass es dort unsichtbare Grenzen gab, die nur selten verschoben geschweige denn überwunden werden konnten. Ich hatte die Grenze nur aus großer Ferne sehr verschwommen erspäht und befahl ihm sie durch ein paar Worte zu überwinden. Das war natürlich Unsinn.
So war das auch in anderen Gesprächen. Selten hatte ich den Mut zu sagen, manchmal geht es einfach nicht, lass es sein, lass ab… Es erfordert einigen Mut, dem anderen unliebsame, weil endgültige Vorschläge zu machen. Entscheidend ist aber die Interpretation des Manchmal. Manchmal kann man nicht auf den Turm steigen, weil man einen windschwachen Stand hat. Manchmal kann man den Schmerz nicht auflösen und die Grenzen verschieben. Wann aber wird aus dem Manchmal ein endgültiges Nie? Wenn man feststellt, dass es keine Lebensgrenzen, sondern nur Beziehungsgrenzen sind? Wann bleibt in dem Manchmal ein hoffendes Einmal? In Worten wird es keine Antworten geben.
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