Durch Zufall recherchierte ich vor einiger Zeit ein wenig zu regionalen Entwicklungspotenzialen und bin dabei auf die erstaunlichen Leistungen der ostdeutschen Agrarwirtschaft gestoßen. Die Landwirtschaft ist die einzige ostdeutsche Branche, die bessere Ergebnisse als das westdeutsche Pendant erzielt. Die Gründe dafür sind sehr schön in einem Vortrag von Rainer Land vom Thünen-Institut für Regionalentwicklung nachzulesen.
“Diese Produktivität kann man nur verstehen, wenn man sich klar macht, dass die ostdeutsche großbetriebliche Landwirtschaft in ihrem Funktionskern hervorragend zu der westeuropäischen, global agierenden Agrar-und -Lebensmittelwirtschaft mit ihren riesigen Lebensmittelkonzernen passte. Alle Ideologeme von Bauernhöfen und Familienbetrieben können da getrost beiseite bleiben. Die globale Lebensmittelindustrie ist eine der modernsten Branchen der industriellen Massenproduktion, die für globale Agrar- und Lebensmittelmärkte und nicht für den Bauernmarkt in Pritzwalk produziert.”
Umso erstaunlicher war für mich gestern ein Beitrag über eben diese ostdeutsche Landwirtschaft in der Tagesschau. Für diese sollten die EU-Subventionen verringert werden. Die ostdeutsche Landwirtschaft wäre demnach besonders betroffen, weil sie über die größten deutschen Produktionsflächen verfügt.
Aber interessanter ist, wie hier über Ostdeutschland gesprochen wurde. Zunächst einmal wurde durch den Kommentator der Eindruck vermittelt, die ostdeutsche Landwirtschaft sei vorsintflutlich: Die Bauern haben sich hier noch einzeln zusammengeschlossen. Man kann sie sich richtig vorstellen, wie sie gemeinsam auf dem Feld stehen und Rüben ziehen.
Noch besser wird es allerdings, wenn der Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Horst Seehofer begründet, warum er die Kürzung ablehnt: „Jeder kennt die wirtschaftliche und strukturelle Situation in den neuen Ländern und deshalb können wir das nicht hinnehmen.“ Aha. Er sagt natürlich nichts Falsches. Die wirtschaftliche und strukturelle Situation in den neuen Ländern sieht gesamt (!) betrachtet nicht gut aus. NUR: Die ostdeutsche Landwirtschaft ist weitaus produktiver als die westdeutsche. Sie ist sogar so produktiv, dass der oben zitierte Rainer Land in seinem Vortrag sagt: „Die meisten Betriebe schreiben schwarze Zahlen, viele würden – entsprechende Anpassung der Märkte vorausgesetzt – auch ohne Agrarsubventionen ganz gut klar kommen.“ Die hohe Produktivität in den neuen Ländern findet sich auch in dem jährlichen Agrarbericht, den Seehofers eigenes Ministerium erstellt hat (S.19 & 20): „Trotz der Einbußen erzielten die Betriebe in den neuen Ländern aufgrund ihrer größeren Produktionskapazitäten weiterhin höhere Gewinne als im früheren Bundesgebiet.“ Das erkennt man auch sehr schön in der Tabelle auf der folgenden Seite.
An dieser Stelle wird der an der alten Teilung orientierte Mythos der strukturschwachen Länder einmal rein statistisch durchbrochen – und was passiert? Nichts. Es ist ja auch zum Vorteil der Bauern, dass nun auf die ostdeutsche Strukturschwäche verwiesen wird. Wozu sollten sie auf ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit hinweisen?
Die Ost-West-Trennung und die Vorstellung von den strukturschwachen Ländern wird so immer wieder aufs Neue reproduziert.
[…] Von Klingsor […]