Ich glaube nicht mehr, dass Zeit Wunden heilt. Dieses Sprichwort entspringt einer unzutreffenden Gleichsetzung von Körper und Seele oder zumindest eine verfälschenden Verkürzung des Zusammenhangs. Eigentlich müsste es lauten: Erfahrung heilt Wunden. Die Zeit bringt uns lediglich neue Erfahrungen.
Man kann seelische Wunden nur heilen, wenn man sich wieder in eine ähnliche Situation begibt, in der sie geschlagen wurden. Man kann also schwer verwundet jahrelang seinen Alltag bestreiten – ohne auch nur irgendeinen Schmerz zu spüren oder einen Tropfen Blut zu sehen. Erst wenn man wieder in die Situation kommt, in der man verletzt wurde, wird man die Wunde wieder spüren, kann sie verbinden und vielleicht sogar heilen lassen.
Das unterstellt natürlich, dass Trauer- oder Schmerzarbeit gar nicht helfen kann, dass die Auseinandersetzung mit der Wunde, der klare Blick darauf nur sehr wenig zum Heilen beitragen kann. Als sehr naheliegendes Beispiel mögen hier Beziehungen dienen. Die Fehler, die man dort gemacht hat, und die Wunden, die man sich (meist gegenseitig) zugefügt hat, lassen sich in der folgenden Phase des Alleinseins überhaupt nicht verarbeiten. Das wäre so als würde man eine gerade erlebte Höhenangst – auf dem Boden stehend – allein durch die Vorstellung von Höhe oder die Erinnerung an diese kurieren wollen. Egal wie viele Jahre man nicht mehr auf einen Turm gestiegen sein wird, das Gefühl wird beim nächsten Turm dennoch wieder da sein. Zeit ist bei der persönlichen Entwicklung kein Maßstab – nur Erfahrung. Und diese bekommt man nur durch Auseinandersetzung.
Deshalb ist wohl auch die Vorstellung falsch, die zum Beispiel Rilke sehr exponiert vertreten hat: Man sollte erst einmal innerlich reifen und dann (quasi fertig) in die Welt nach draußen gehen. Es hilft meines Erachtens nicht sich selbst in Einsamkeit in allen seinen Facetten und Bedürfnissen kennenzulernen, all das Wissen wird im Angesicht der ersten Person mit anderen Bedürfnissen obsolet – es wird an der Situation schlicht vorbeigehen. Das soll nicht heißen, dass die Suche nach dem ureigenen Selbst überflüssig ist, sondern, dass es Selbstkenntnis immer nur situationsbedingt geben kann.
Darin liegt vielleicht auch die große Kraft der Zeit: Sie schafft es immerhin, dass die Situation der Verwundung verblasst. Sie entzieht den Täter der inneren Verfolgung, lässt die Anklage vor dem inneren Tribunal verjähren. Vielleicht gibt es so etwas wie Zeitmilde, vielleicht ist es aber auch nur schwindende Erinnerung. Darin läge dann wohl auch die letzte Hoffnung, die dieser Spruch spenden kann: Die Zeit vergisst alle Wunden.
Hmm, gutes Thema. Ich sehe selbst die „Zweischneidigkeit“ von Körper und Geist. Möchte man im ersten Fall davon sprechen, was es oftmals einfach ist, nämlich Konditionierung, dann geht die nicht von alleine weg – richtig. Die muss man auslöschen. Und selbst dann besteht die Gefahr, dass man schnell wieder an einem hohen Punkt einsetzt.
Innerliche Reifung und die äußere Welt gehen meines Erachtens nach stark Hand in Hand. Erfahrungen von draußen mit nach Hause nehmen, überdenken, Schlüsse ziehen, sich verbessern, testen und von vorn. Eine rein geistiger Schliff im Elfenbeinturm… nein. Allerdings kann man dadurch den Mehrwert gewonnener Erfahrungen steigern beziehungsweise sie überhaupt erst zugänglich machen. Aber ich glaube, das schreibst du in anderen Worten ja auch *lach*
Und diese Entwicklung schafft es dann, eventuell besser mit seinen Verletzungen umzugehen. Was die Heilung angeht, so kann einem vielleicht nur der Täter dabei helfen. Ob und inwieweit eine Stellvertreterrolle möglich ist… weiß ich nicht.
Die Zeit ist denke ich nur als konfundierte „Scheinvariable“ zu sehen. Ich weiß nicht, ob Zeit rumgehen kann ohne Erfahrung (jedwelcher Art) zu machen. In Bezug auf die Wunde vielleicht. Aber das liegt ja in der Hand des Einzelnen.