Ich hangele mich in letzter Zeit von Möglichkeit zu Möglichkeit, immer mit der Angst im Nacken, dass die nächste Möglichkeit ausbleibt, dass das nächste Seil nicht trägt und ich ins Leere falle. Bisher ist die große Leere noch ausgeblieben, auch wenn sie immer schonmal angeklopft hat.
Ironischerweise lese ich gerade als Hauptbeschäftigung die Dissertation eines Freundes Korrektur. Sie handelt vom biographischen Selbstverhältnis: Wie man dieses mit soziologischen Mitteln denn untersuchen könne, wie man überhaupt Erfahrungen machen und sammeln könne und wie man daraus seine eigene Geschichte entwickeln und erzählen kann.
Der folgende Abschnitt passt sehr gut zu meiner momentanen Lage und stimmt zum Teil sehr direkt. Manches erahne ich aber auch nur, und von manchem weiß ich nicht, ob es in dieser Ausschließlichkeit richtig ist. Da ich aber meinen eigenen Ausweg noch nicht gefunden habe, könnte der hier formulierte Weg auch stimmen.
Das innere Zwiegespräch
Die Identitäts-Frage „Wer bin ich?“ erwächst in Ego, wenn eine seiner sozialen Beziehungen derart problematisch geworden ist, dass sie auf Egos Selbst- und Weltverhältnis im Ganzen ausgreift. Indem er sich fragt, wer er ist, befragt er sowohl seine aktuelle Lebenssituation als auch ihre historische Tiefendimension. Ego hält sich dabei nicht nur vor Augen, welche Motivationsquellen er anzapfen kann, um diese oder jene Rollen im gesellschaftlichen Leben zu spielen, sondern auch, wie es dazu gekommen ist, dass er nun in ein Befremden über sich selbst eingetreten ist. Die Frage „Wer bin ich?“ zeigt ihm an, dass er nun nicht mehr in den Perspektiven der Anderen aufgeht, sondern vor sich selbst so steht wie vor einem rätselhaften Fremden.
In dieser Situation der Selbstanonymität besteht die Aufgabe für Ego darin, mit den Erwartungen anderer (generell: mit seinen sozialen Rollen) so ins Reine zu kommen, dass er den eigenen Charakter einesteils zwar als Schnitt- und Kreuzungspunkt intersubjektiven Verhaltens verstehen kann, andernteils darin aber so souverän bleibt, dass sein Selbstverständnis darin nicht aufzugehen braucht. Sozialen Beziehungen kann Ego nicht generell entsagen, weil diese es sind, über die sein Selbstverständnis generiert wird.
Die Objektivität des Lebens und der Geschichte wird von Ego als Kontinuum historischer Ereignisse, als Wechsel innerer Zustände und als Nacheinander sozialer Beziehungen aufgefasst. Auf diese Weise wird Ego seine Vergangenheit und Gegenwart nach Hinweisen auf seine Identitätsunsicherheit absuchen. Egos Überzeugung ist, dass die Befunde, die seine innere Selbsterforschung zu tage fördern werden, nur die Vorbedingungen einer Schubumkehr seines Lebens sind. Im Wahrheitsverhältnis zu sich vertritt Ego die Auffassung, dass er sich ändern wird, wenn er seine sozialen Beziehungen verändert. Und deswegen gilt es zunächst, den für seine Identitätsungewissheiten verantwortlichen Beziehungen habhaft zu werden.
Nun gibt es aber noch eine zweite Einstellung, auf sich selbst zurückzusehen, die nicht das Telos einer inneren Bekehrung des Selbst in sich trägt. Ich meine ein Selbstverhältnis, in dem das Selbst sakralisiert wird. Nicht durch Diagnose des Unwürdigen und dessen Absonderung, sondern durch Imitation des Vorbildhaften in der eigenen Lebensgeschichte lässt sich in dieser Sicht der Dinge die Identitätsungewissheit Egos beheben. Ego wird daher jene Sozialbeziehungen in den Mittelpunkt seiner Selbstbetrachtung rücken, mit denen er sich in hohem Maße identifiziert.
Wenn Ego erst einmal die Identitätsfrage zugewachsen ist, führt ihn das offenkundig in eine Entzweiung. Es sieht so aus, als ob sein inneres Zwiegespräch zwischen dem Wahrheitsverhältnis zu sich – in dem sich Ego als alltägliches alter Ego betrachtet – und der Legendenbildung – in der sich Ego als außeralltägliches Ego wahrnimmt – zu oszillieren scheint. Ego können aber nur solche Einsichten und Überzeugungen von sich weiterhelfen, die ihn nicht nur interaktionsfähig halten, sondern auch vor der alsbaldigen Rückkehr der Identitätsfrage bewahren. Nicht der Wahrheitsbezug zu sich, sondern die Legendenbildung ist daher die Selbstbeziehung, die sich in Situationen der Identitätsungewissheit für Ego aufdrängt. Denn durch die Selbstsakralisierung bewahrt sich Ego davor, sein „wahres“, „eigentliches“ und „innerstes“ Kern-Selbst in allen möglichen Interaktionen realisiert sehen zu wollen, sondern nur in dafür ausgezeichneten sozialen Beziehungen. Durch die Legendenbildung seiner selbst kann es Ego vermeiden, zu all jenen sozialen Beziehungen und Interaktionspartnern auf Abstand gehen zu müssen, die der Verwirklichung seines Kern-Selbst im Wege stehen. Die Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ führt also nicht automatisch in eine innere Enklave gegenüber allen sozialen Beziehungen, sondern nur zur Hervorhebung bestimmter sozialer Beziehungen.
Für die Gesamtproblematik der Identitätsfrage heißt dies, dass die Ausgangsfrage, in der die Identitätsungewissheit sich Ego aufdrängt („Wer bin ich?“), nicht nur einer praktischen Behandlung zugeführt wird („Warum stelle ich mir diese Frage?“), sondern dass diese Operationalisierung letztlich ethisch motiviert ist. Hinter „Wer bin ich?“ steht „Wer will ich sein?“. Indem er bestimmte Aspekte an sich hervorhebt und andere beiseite lässt („So bin ich eigentlich nicht“) idealisiert er nicht nur sich und seine sozialen Beziehungen, er verfügt zugleich auch über ein implizites Selbstbild, an dem er sich ausrichtet. Wenn sich Ego daher die Frage stellt, wer er ist, fragt er nach dem Vorbildcharakter einer Idee von sich, die von einer derartigen Qualität sein muss, dass Ego gar nicht anders können will, als ihr nachzufolgen.
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