In letzter Zeit führe ich im Rahmen einer Studie Interviews mit älteren Menschen durch. Da die Interviews in den meisten Fällen auch bei den Interviewten zu Hause stattfinden, könnte ich einiges über die Lebenswirklichkeit alter Menschen erzählen. Was mich bisher am meisten erstaunt hat, ist ihr Umgang mit der Langeweile.
Ich bin also in einem Dorf irgendwo hinter Gotha, sitze in einem größeren hellen Raum, in dem nichts weiter steht als eine graue Couchgarnitur und eine Schrankwand mit Fernseher drauf, die Tapete hat ein Blümchenmuster. Es ist wohl das Wohnzimmer. Jedes einzelne Detail dieser wunderbaren Installation strahlt nur eines aus: Langeweile. Es ist ein Gesamtkunstwerk der Tristesse und der Einsamkeit. Ein Manifest, das das Verlorensein des Menschen zeigt – im Angesicht der ihm vom Leben zur Erfüllung gegebenen Zeit. Ich habe Angst vor dem Alltag dieser Menschen, habe Angst davor, hier bleiben zu müssen, auch davor, irgendwann so zu werden. Und dann passiert es: Beide Ehepartner antworten mir unabhängig voneinander, dass ihnen nicht langweilig sei und sie ein ausgefülltes Leben hätten. Es sind leider keine qualitativen Interviews, so dass ich hätte nachfragen können, und auch ein lautes „Was?!“ schien mir unangemessen und unprofessionell. Außerdem wusste ich das auch schon aus anderen Interviews: Alten Menschen ist nicht langweilig. Es könnte natürlich sein, dass sie es aufgrund von sozialer Erwünschtheit vor mir nicht zugeben wollen. Bei den meisten aber spüre ich da eine gewisse Stimmigkeit und Selbstverständlichkeit der Antwort. Also wie ist das zu erklären?
Nach diesem Interview ist mir klargeworden, dass das Erkennen von Langeweile Intelligenz und ein Bewusstsein für das eigene Selbst voraussetzt. Um Langeweile zu empfinden, darf man nicht eins mit seinen Tätigkeiten sein, man braucht eine gewisse Distanz zu ihnen. Kurzum man braucht einen Möglichkeitssinn, der einem andeutet, was alles mit der Zeit getan werden könnte. Das ist eigentlich paradox, weil genau dieser bereits den Ausweg aus der Langeweile aufzeigt. Allerdings kann dieser Weg in dem Moment – aus welchen Gründen auch immer – nicht beschritten werden. Häufig ist es auch so, dass dieses Es-könnte-auch-anders-Sein gar nicht konkret wird, sondern dass es nur die aktuelle Situation als langweilig abstempelt. Langeweile deutet auf eine Unzufriedenheit mit dem aktuellen Zustand hin, sie schafft Problembewusstsein und damit letzten Endes auch den Raum für Veränderung. Doch die meisten Menschen fürchten sich davor und wollen sie um jeden Preis vermeiden. Sie schaufeln sich ihre Tage mit Aufgaben zu, als gelte es Momente der Ruhe, des Besinnens unwiderruflich zu begraben. Sie türmen ihr tägliches Tun, als könnten sie nur von der Turmspitze aus ihre eigentlichen Ziele erkennen. Dabei kann gerade Langeweile – im besten Fall – ein klareres Bewusstsein für die eigenen Bedürfnisse schaffen, weil sie eine kleine Pause im Wollensmarathon schafft, weil sie ein schwarzes Loch im Lustbefriedigungskosmos darstellt.
Zudem ist Langeweile eigentlich ein Luxusproblem. Wer beispielsweise Kinder oder Arbeit hat, wird sich über jede freie Minute freuen, die ihm bleibt und diese zu nutzen wissen, sei es auch nur durch Vorsichhinstarren. Im Gegensatz dazu haben Rentner natürlich extrem viel Zeit – auch für Langeweile. Aber nach einem wesentlich durch die Erwerbsarbeit strukturierten Leben können sie sich frei von dieser Vorstrukturierung doch nur einen ähnlich geregelten Tagesablauf schaffen. Und das schützt sie vor Langeweile. Möglicherweise gab es auch Phasen, in denen all die Routinen in Frage standen und die zeitlichen Regeln des Tages noch ausgehandelt wurden. Aber das ist bei den meisten sehr lange her und das kann man auch nicht mehr abfragen. So hat sich eine in den eigenen Augen nicht langweilige Tagesstruktur eingepegelt. Eine wesentliche Rolle spielt dabei übrigens meist der effektivste aller Langeweile-Verhinderer des modernen Lebens: Der Fernseher.
Offen ist nun nur noch, ob diese Variante des Zeitvertreibs, also das Delegieren der eigenen Kreativität an ein (teilweise) kreatives Äußeres, als Inbegriff von Langeweile verstanden werden sollte oder ob diese Interpretation nur ein verquerer, von außen herangetragener Maßstab ist, mit dem man ebenso das Lesen eines Buches oder das Spielen von Gesellschaftsspielen verteufeln könnte. Ich werde mich, statt dieser Frage nachzugehen, nun gepflegt langweilen. Zumindest bis ich etwas Anderes tue.
Wieso kommentiert hier eigentlich keiner? Wo Du Dir so viel Mühe gibst und so viel schreibst und es auch alles recht klug klingt, trotzdem stoße ich mich an manchen Ecken zB in diesem Text. Ich glaube nämlich, daß Langeweile kein Luxusproblem ist. Das zum einen. Und Langeweile ist eigetnlich auch keine Pause im Wollensmarathon. Nur eine negative Phase davon, zumindest wird sie als negativ empfunden, nämlich das gerade mögliche wird alles NICHT gewollt. Und der Sprung von der Langeweile zu der Erkenntnis, sich seiner wirklichen Wünsche bewußt zu werden, der ist meiner Meinung nach ein sehr großer und voraussetzungsreicher.
Mmh, das stimmt. Ich war mir auch ein wenig unsicher in dieser Beschreibung der Langeweile. Das kollidiert allerdings dann mit meinem apodiktischen Stil, so dass ich die Unklarheit kaum ausdrücken kann. Ist wirklich eine komische Sache, die Langeweile, wenn man ein wenig drüber nachdenkt. Aber den Sprung kann man vermutlich nicht aus der Langeweile heraus schaffen. Vielleicht ist Langweile wirklich nur ein NEIN zu allem, ohne schon zu wissen, was man eigentlich will. Ich habe das bloß positiv überhöht, als ein Ahnen des Möglichkeitsraums. Wenn man wirklich in dem stetigen Nein verharrt, ohne das zu erkennen, was man will, dann ist das aber eher schon ein Hang zum Nihilismus, zum Weltüberdruss.