Es gibt Fragen, die tauchen für die meisten Menschen nur an den neuralgischen Punkten ihres Lebens auf: An den Weggabelungen, an denen ihnen der zurückgelegte Weg, das bisherige Sein, bewusst wird und sich gleichzeitig die zukünftigen Wege, die Möglichkeiten des Werdens, offenbaren. Wenn man zulange an diesen Punkten ausharrt, können die zu stellenden Fragen immer existentieller werden. Sie führen vom „Wer bin ich?“ über das „Was will ich?“ zum „Wer will ich sein?“. Mit zunehmendem Alter ändert sich auch die Perspektive dieser Fragen: Die in den ersten Fragen noch vorhandene Leerstelle wird durch das Beschreiten des Weges mit einem Sein und einem Wollen gefüllt. Die Fragen werden zu den verwundert ausgerufenen, vielleicht auch etwas skeptischen Fragen: „Das bin ich also!?“, „Das will ich also!?“. Dann taucht oft auch die Frage auf „Ist das alles?“ Sie führt zu den grundlegenden Fragen, die immer bedrohlich im Hintergrund gelauert haben: „Wozu das Ganze? Warum überhaupt etwas tun, wenn man am Ende doch nur stirbt? Was ist der Sinn des Lebens?“ Das Bedrohliche an diesen Fragen ist, dass, wenn man diese Fragen stellt, es eigentlich schon zu spät ist: Man ist aus dem Fluss des Lebens gestiegen und beginnt sich – nun am Ufer stehend – zu fragen, ob und warum der Fluss überhaupt fließt. Es kann darauf in meinen Augen keine allgemeine und abschließende Antwort geben.
Dennoch kann man, wenn man einmal aus dem Fluss gestiegen ist, sich doch auch einmal umschauen: Welche Antworten haben denn andere gefunden, welche Antworten bietet unsere Gesellschaft? Da ich ein Freund der Kategorisierungen bin, habe ich einmal eine kleine Liste mit den Sinnen des Lebens zusammengestellt, die mir bisher begegnet sind und die mir vorstellbar sind. Vielleicht besteht die folgende Liste auch eher aus Sinnbausteinen, die im Zuge des Lebens mit wechselnden Anteilen immer wieder neu zu einem Gesamtsinn zusammengefügt werden können. Allerdings sind diese Sinne nicht völlig frei wähl- und kombinierbar – man hat vielmehr für bestimmte Sinne eine lebensgeschichtliche Vorprägung.
Hier die Liste der Lebenssinne in einer vorstellbaren Chronologie, aber ohne Anspruch auf Vollständigkeit:
1. Genuss als Sinn des Lebens
„Carpe diem“ beschreibt diese Vorstellung wohl am besten: Das Leben genießen, den Moment maximal auskosten und nicht an Morgen denken. Und solange man jeden Tag genießt, kann am Ende doch nichts Falsches rauskommen! Dieses Verständnis des Lebens klammert die Frage nach einer langfristigen, einordnenden Perspektive komplett aus: Das Ende (der Tod) ist nicht relevant oder zumindest nur als Negativfolie präsent, vor deren Hintergrund das Auskosten jedes Moments umso wichtiger wird. Wenn jedoch Sand in dieses hedonistische Getriebe geworfen wird, sei es durch einen plötzlichen Mangel an Erlebbarem oder durch die Erschöpfung des Selbst in Anbetracht der ständigen Suche nach genau der passenden Befriedigung für das gerade aktuelle Bedürfnis, wird es in existentielles Stottern geraten. Dann wird es sehr schwer, diesen Sinn wieder komplett aufleben zu lassen und es besteht die Gefahr, dass man immer wieder versucht, das reine und unschuldige erste Mal krampfhaft wiederzubeleben.
2. Helfen als Sinn des Lebens
Der Grundgedanke ist hier: Solange ich anderen Menschen helfe, ist mein Leben ja ganz offensichtlich sinnvoll. Ohne mich wäre die Welt schlechter und viele Menschen unglücklicher. Wer könnte das in Frage stellen! Diese Vorstellung steht deutlich im Gegensatz zum hedonistischen Sinn des Lebens, der auf das radikale Ausleben des Selbst ausgerichtet ist, während der altruistische Sinn das Selbst oftmals bis zur Selbstaufopferung in den Hintergrund drängt. In die Krise gerät diese Vorstellung oft durch die Erkenntnis der Unendlichkeit des Leids auf der Welt und das damit verbundene Gefühl der Unbedeutsamkeit des eigenen Handelns, ja der eigenen Ohnmacht. Aber auch dann, wenn das Selbst aufhört zu schweigen und sich der eigenen Bedürfnisse bewusst wird, die in Anbetracht der Bedürfnisse all der anderen, viel stärker Leidenden jahrelang unterdrückt wurden.
3. Die Welt verstehen als Sinn des Lebens
Diese Vorstellung ist von der Neugier geprägt, die Welt, die einen umgibt, besser und tiefer zu verstehen. Die Neugier führt zum Sammeln von Wissen: Man bildet sich weiter, man will immer mehr wissen. Da die heutigen Wissensbestände nahezu unendlich sind, kann man sich an diesem Sinn ein Leben lang abarbeiten. Hier geht es meist unbewusst auch um eine Frage der Distinktion – man will sich von anderen abheben: Man genießt es, mehr zu wissen als andere und hinter die Dinge zu schauen, die andere als selbstverständlich wahrnehmen. In die Krise gerät dieser Sinn, wenn sich die Neugier erschöpft: Sei es aufgrund der im Laufe des Lebens zunehmenden alltäglichen Routinen und Ablenkungen oder aufgrund der mit dem Wissensgewinn oftmals verbundenen anmaßenden Vorstellung „jetzt“ zu wissen, wie die Welt wirklich funktioniert.
4. Sich selbst verstehen und erfahren als Sinn des Lebens
Das Leben hat in diesem Verständnis den Sinn, das eigene So-Sein zu erkennen und einen Umgang damit zu lernen. Man versucht mit sich selbst klarzukommen, mit sich selbst ins Reine zu kommen, das eigene Verhalten zu verstehen und die eigenen Bedürfnisse kennenzulernen. Wenn dieser Sinn nicht nur auf das eigene Geworden-Sein und So-Sein gerichtet ist, kann es auch darum gehen, das eigene Potential voll auszuschöpfen, sich selbst optimal weiterzuentwickeln. Man will sich selbst (über seinen Körper) „erfahren“ und die eigene Wahrnehmung schulen. In die Krise gerät dieser Sinn, wenn eine Erschöpfung des eigenen Erkenntnis- und Erfahrungswillens, eine Ermattung des Wunsches nach persönlicher Weiterentwicklung einsetzt oder unhintergehbare, feste Bestandteile des eigenen Selbsts entdeckt werden, um die man seit Jahren mit dem Wunsche der Durchdringung und „Erfahrung“ gekreist hat.
5. Kunst als Sinn des Lebens
Wenn man sich selbst das erste Mal wahrnimmt, sich das erste Mal spürt, dann gibt es oft den Wunsch all diese Gefühle auszudrücken, seinen neu gewonnenen Blick auf die Welt anderen mitzuteilen. Dafür bieten sich die vielen Formen der Kunst an: Das Literarische, das Musikalische, das Photographische etc. In diesem öffentlichen Ausdrücken lebt man auf, man erfährt Resonanz von anderen. Im gewissen Sinne ist dieser Sinn das aktive Gegenstück zum eher passiven, ästhetischen Sinn. Es schaffen allerdings nur wenige Menschen, diese Art des Selbstausdrucks aufrecht zu erhalten und Künstler zu werden und wirklich Kunst zu schaffen. Für sie besteht der Sinn des Lebens darin, ihre Selbstwerdung in der Öffentlichkeit künstlerisch zu zelebrieren. Bei den meisten werden jedoch die Musikinstrumente irgendwann auf dem Dachboden verstaut, das eigene Buchprojekt beerdigt oder die Zeichen-Ambitionen vergessen. Manchmal werden diese frühen künstlerischen Ambitionen später – in Phasen der Sinnkrise – als Hobby wiederbelebt.
6. Erziehung als Sinn des Lebens
Dieser Sinn wird entweder als Ausweg aus dem Angekommensein in der Beziehung und im Berufsleben bewusst gewählt oder man erfährt ihn als einen unerwarteten und fast übergestülpten Sinn. Im ersten Fall wird das Kinderkriegen als gesellschaftliches Sinn- und Weiterentwicklungsangebot angenommen, die Frage nach dem Sinn muss nicht mehr gestellt werden. Man erklimmt eine weitere Stufe auf der Leiter der gesellschaftlichen Normalbiografie. Im zweiten Fall befinden sich die Partner noch verstrickt in ihrer eigenen Sinnsuche und erfahren die Kindererziehung als zeit- und lebenszehrende Aufgabe, die eine Beschäftigung mit Fragen, die über die Bewältigung des Alltags hinausgehen, unmöglich macht. Im ersten Fall wird man diesen Lebenssinn sehnsüchtig annehmen, im zweiten Fall meist nur widerwillig als Einsicht in die Notwendigkeit. Inhaltlich verengt er sich in Richtung des altruistischen Sinns: Der Lebenssinn besteht darin, die eigenen Kinder zu guten Menschen zu machen. Doch dieser Sinn ist nur ein Intermezzo in der Sinnsuche. Die Sinnkrise und -leere nach dem Auszug der Kinder führt vor Augen, dass die Auseinandersetzung mit dem Sinn des eigenen Lebens genauso weitergeht wie vor der Geburt der Kinder. Schwierig wird es dann, wenn Eltern von ihren Kindern nicht loslassen wollen und ihren Sinn durch das Mit-Leben des Lebens ihrer Kinder finden wollen.
7. Erfolg als Sinn des Lebens
Beruflicher Aufstieg und Streben nach Erfolg gehören (neben dem Kinderkriegen) zu den sichtbarsten Angeboten im Sinnrepertoire dieser Gesellschaft. Der Sinn des Lebens besteht hier im Streben nach Erfolg, Berühmtheit und Geld. Obwohl seine Eignung als Antwort auf die Sinnfrage oft gesellschaftlich in Frage gestellt wird (z.B. „Geld macht nicht glücklich!“), ist dieser Sinn einer der beliebtesten. In der gegenwärtigen, auseinanderdriftenden und atomisierten Gesellschaft wurde dieser Sinn wohl verständlicherweise aus dem Wunsch nach materieller Sicherheit und dem Wunsch nach persönlicher Anerkennung gespeist, hat sich jedoch bei vielen Menschen so verselbständigt, dass sie, selbst wenn sie dieses ursprüngliche Ziel erreicht haben, immer weiter auf diesem Weg gehen müssen. Dieser Sinn ist ein Fass ohne Boden – genug Erfolg und Geld gibt es nicht! Ein Ausstieg aus dieser Sinnmaschinerie geschieht meist nur durch einen kompletten Zusammenbruch (im Volksmund „Burnout“).
8. Schaffen als Sinn des Lebens
Dieser Sinn ist dem karrieristischen Sinn recht ähnlich – nur dass er sich nicht an eine Öffentlichkeit richtet, sondern vielmehr einen Rückzug ins Private darstellt. Man will mit den eigenen Händen etwas schaffen, etwas aufbauen. Wenn dieser Sinn eher im Leben auftaucht, kann er sich auch in künstlerischen Werken äußern, je später er jedoch auftaucht, desto eher führt er zu dem Wunsch, sich ein harmonisches, heimisches Umfeld zu schaffen. Das zeigt sich dann an den Einfamilienhäusern und den Schrebergärten. Dort wird die Bebauung, Bepflanzung und Renovierung zu einer immer wiederkehrenden, lebenslangen Aufgabe. Dies ist ein Sinn, der Menschen bis zum Ende ihres Lebens begleiten kann.
9. Ästhetik als Sinn des Lebens
Hier fallen Sinn als Wahrnehmung und Sinn als Bedeutung in eins: Die Schönheit der Welt mit seinen Sinnen wahrzunehmen, sei es in der Kunst, in der Natur, aber auch in anderen Menschen, das gibt dem Leben Bedeutung. Dafür muss man einen offenen Blick für das Besondere haben, sich davon überraschen lassen und sich dafür begeistern können. In zunehmendem Alter äußert sich dieser Sinn in dem Wunsch, die Wahrnehmungsfähigkeit für den ästhetischen Genuss zu steigern und den eigenen ästhetischen Geschmack zu verfeinern. Insofern kann man diesen Sinn vielleicht auch als eine (erwachsene?) Variante des erstgenannten Genuss-Sinns verstehen. Die schwierigste Aufgabe dabei ist es wohl, sich trotz des Alltags und der sich im Alter ausbreitenden Routinen diesen Blick für das Besondere und Schöne zu bewahren.
10. Religion als Sinn des Lebens
Der Glauben, dass alles seine Richtigkeit in dieser Welt durch Gottes Fügung hat, ist wohl einer der sichersten Sinne des Lebens. Obwohl er durch die Säkularisierung geschwächt wurde, gibt es noch viele Menschen, die ihr Leben auf diese Weise in einen größeren Zusammenhang einordnen. Lediglich durch Schicksalsschläge kann dieser Sinn nachhaltig gestört werden.
Zwischen diesen verschiedenen Sinnen gibt natürlich diverse Interaktionen und Überschneidungen. Daher werde ich demnächst zur besseren Verständlichkeit große Schautafeln erarbeiten und die Beziehungen zwischen diesen Lebenssinnen mit Pfeilen oder mit Schnittmengen grafisch darstellen. Dann begründe ich eine neue Sinn-Philosophie und schreibe meine Dissertation darüber. Das begründet dann vielleicht auch noch einen elften Sinn: Philosophie über den Sinn des Lebens als Sinn des Lebens.
Es kommt bei den einzelnen Sinnen das Wort Erschöpfung gehäuft vor… das legt den Schluss nahe, dass jeder Sinn wie ein Rohstoff ist, mit dem sorgsam, also nachhaltig zu haushalten ist …. das wiederum hieße, haushaltet man gut, kann man alle Sinne überdauernd halten.