Eigentlich hatte ich mir geschworen, immer ehrlich zu sein. Eigentlich sollte es nur ein paar Ausnahmen geben, wann ich nicht die Wahrheit sagen würde. Eine solche Ausnahme hatten wir damals im Ethikunterricht in meiner Schule durchgespielt. Dafür standen dann Gestapo-Leute bei dem Mann, der Juden versteckte, vor der Tür und fragten: „Haben Sie Juden im Haus?“ In diesem Fall war es eine moralische Notwendigkeit zu lügen. Nun habe ich aber eine weitere Form der berechtigten Lüge entdeckt: Die absurde Ehrlichkeit.
Ein Beispiel: Auf einer Party saß ich auf einer Couch, vor uns standen Leute. Nach einer Weile gingen sie weg und es blieb ein 5-Euro-Schein auf dem Boden liegen. Der Schein lag genau an der Stelle, an der ein Typ gestanden hatte, den ich flüchtig kannte. Ich hob den Schein auf und suchte den Typen – aber er war bereits gegangen. Nun ist die Frage: Soll ich diesem Typen, der mich kaum kennt, auf der Straße Tage später noch diesen 5-Euro-Schein geben? Immer wenn ich ihn sehe, muss ich darüber nachdenken und entscheide mich dagegen.
Das Wiedergeben wäre wirklich absurd ehrlich. Es überschreitet eine Grenze der Ehrlichkeit, deren Existenz mir zuvor gar nicht bewusst war. Scheinbar gibt es auch so etwas wie eine „normale“, gesellschaftlich akzeptierte Ehrlichkeit und eine „ungesunde“, übertriebene Ehrlichkeit.
Früher dachte ich auch so. Ehrlichkeit über Alles, als guter Mensch durchs Leben gehen, moralisch einwandfrei sein. Und das ist sehr löblich, allein den Versuch zu wagen, aber im Ernst…es ist unmöglich. Kein Mensch auf diesem Planeten kann immer ehrlich sein.
Und es ist auch, wie du schreibst, ungesund und manchmal (oder oft?) auch unangebracht. Zum Einen kann die Wahrheit sehr weh tun, sie kann Zusammenleben unnötig belasten. Beispielsweise in der Partnerschaft: man stelle sich vor, man berichtet dem Partner jedweden Kontakt zum anderen Geschlecht, sei es eine SMS (bzw. WhatsApp), ein harmloser Flirt oder ein gemeinsamer Kaffee, ohne jeglichen amourösen Hintergrund. Es würde doch nur Diskussionen darüber nach sich ziehen, die am Ende eventuell Zweifel und Mißtrauen säen, wobei es überhaupt keine Grundlage gibt. Zum Anderen nerven mich persönlich die Menschen, die einem immer und fast schon zwanghaft die eigene (ehrliche) Meinung sagen. Natürlich ist es situationsbezogen schön, eine ehrliche Einschätzung zu bekommen, aber hey, es ist auch mal schön zu hören, dass etwas gut wird oder gut gelungen ist, auch wenn der Lobende das nicht im tiefsten Inneren spürt. Eine kleine Lüge zur Motivation ist doch manchmal ganz aufbauend und wenns dann trotzdem schief geht…so ist das eben.
Natürlich darf das Lügen bzw. das Wahrheit verschweigen nicht ausufern…aber absolut ehrlich sein…nee danke, brauch ich nicht.
Und zu deinem 5-Euro-Menschen…vielleicht lag der Schein schon vorher dort und der Typ stand einfach nur die ganze Zeit drauf ohne es zu merken? Und hätte er ehrlich gesagt „Nein, der gehört mir nicht.“, wenn du ihn gefragt hättest? Ich denke, du hast es richtig gemacht. Wer sein Geld so leichtsinnig mit sich rumträgt, dass er es verliert, hat Pech gehabt.