Es gibt bei Gedichten gerade einen traurigen Trend zur Ortspoesie. Die Dichter beschreiben in diesen Gedichten ausführlich den Ort, an dem sie sich gerade befinden. Dabei kommen dann Gedichte über Apolda, unbekannte Orte in der Pfalz oder in Großbritannien raus. Es werden Supermärkte und Kassierer, Straßen und Fahrradfahrer, Häuser und ihre Bewohner beschrieben. Mich langweilt das. Es erinnert an den Maler, der einfach nur malt, was er grade sieht. In der Malerei wird das heute nicht mehr als Kunstwerk akzeptiert – es kann höchstens noch als handwerkliches Training dienen.
In der Poesie scheint sich aber diese Gattung auszubreiten. Sie ist für den Dichter ein schwieriges Unterfangen: Um den Ort zu beschreiben, muss er möglichst konkret sein, aber zugleich auch für den Leser, der diesen Ort womöglich nicht kennen wird, möglichst allgemein schreiben. Er darf sich nicht in literarisch leicht überformten, realen Beobachtungen verlieren, sondern muss ein Gesamtbild, ein Gefühl im Leser erwecken, das unabhängig vom Ort ist. Die Kunst wäre es in meinen Augen, im Ort das Überörtliche zu sehen: Durch den Ort einen Menschen zu beschreiben, eine Lebensphase vielleicht oder das Lebensgefühl einer Generation. Das gelingt aber viel zu selten.
Wenn es nur lyrisch überformte Alltagsbeobachtung ist, dann werden merkwürdigerweise die Rollen verkehrt: Die künstlerische Leistung vollbringt nicht mehr der Dichter, indem er auswählt und verdichtet, sondern der Leser, der in dem Unausgewählten und Episodenhaften das große Ganze heraussuchen soll: Ist diese Episode nun charakteristisch? Und wenn ja, für was? Nur für den Ort?
Einen Vorteil hat die zunehmende Ausbreitung dieser Gattung jedoch: Man könnte bei Google Maps eine neue Kategorie zum Anzeigen einführen – „Gedichte über diesen Ort“. Dann kann man sich auf Reisen immer anzeigen lassen, ob ein lokaler Ortspoet schon einmal über den jeweiligen Ort ein episodenhaft-beschreibendes Gedicht verfasst hat.
Vielleicht würde das auch die allgemeine Akzeptanz von Lyrik in der Gesellschaft wieder erhöhen: Wenn der Normalbürger an dem Ort auch den Arbeitslosen sieht, den der Dichter an genau demselben Ort auch sah, dann wird er Lyrik endlich nicht mehr als abgehoben und elitär wahrnehmen.
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