Die sprachliche Qualität der meisten Bücher ist heutzutage eher gering. Sie versuchen den Leser nach und nach in ihren Bann zu ziehen. Die einzelnen Sätze und Absätze sind dabei nicht so wichtig – sie dienen nur dazu, die Handlung voran zu bringen. Ein paar typische Sätze könnten beispielsweise lauten:
„Er sagte: ‚Das kannst du nicht machen, Susie!‘ Doch sie hörte nicht auf ihn und sagte: ‚Lass mich, ich will es wenigstens versuchen, Nick!’“
Um diese Passage spannend und interessant finden zu können, muss man die komplette Vorgeschichte von Susie und Nick kennen. Meine Freundin hat nun vorgeschlagen dieser sprachlichen Verarmung einen neuen Test entgegenzustellen: Man schlägt das Buch an einer beliebigen Seite auf und liest den erstbesten Absatz. Wenn dieser einen in den Bann zieht, ist das Buch gut. Je mehr man lesen muss, um es interessant zu finden, desto schlechter ist das Buch (bzw. umso mehr ist es von dem heute üblichen, langwierigen inhaltsbezogenen Spannungsaufbau abhängig). Diese eigentlich banale Idee könnten wir uns bald unter dem schönen, pseudowissenschaftlichen Titel „Random Read Test“ (RRT) patentieren lassen.
Durch den RRT wird man nicht mehr vom Inhalt langsam eingelullt und letztendlich dazu verführt, nicht mehr auf die Sprache des Buches zu achten, sondern man wird anhand eines minimalen inhaltlichen Ausschnitts direkt mit der literarischen Qualität des Buches konfrontiert. Sie wird in diesem Test – unabhängig von der inhaltlichen Gesamtkomposition – anhand eines beliebigen Satzes gemessen. Auf diese Weise kann man die „Kleinste interessante Einheit“ (KiE) eines Buches messen: Je besser das Buch, desto kleiner die Einheit. Das kann nur ein einzelner Satz, ein ganzer Absatz, ein komplettes Kapitel oder auch das ganze Buch sein. Dieser Wert kann natürlich bei ein und demselben Buch individuell ganz verschieden ausfallen. Ich vermute allerdings, dass die KiE heutzutage bei den meisten Büchern das ganze Buch umfasst.
Allerdings gilt auch: Je kleiner die KiE eines Buches, desto schwerer ist das Buch auch zu lesen. Die Sprache wird schwieriger, weil die Bilder komplexer oder die Dialoge gewitzter oder die Ideen abstruser werden. Es lohnt sich beim Lesen innezuhalten und nicht durch-zulesen. In ganz besonderen Fällen gelingt es sogar, dass sich die sprachliche Form nicht nur vom Zweck des bloßen Vorantreibens des Inhalts lösen, sondern auch aus ihrer Nutzung als Bild, Witz- oder Ideenvehikel befreien kann und beginnt mit dem Inhalt in Interaktion zu treten, beispielsweise indem sie ihn in ihrer Form widerspiegelt oder auch konterkariert.
Ein solches, eher seltenes literarisches Ereignis kann man allerdings mit dem „Random Read Test“ und der „Kleinsten interessanten Einheit“ nur schwer erfassen. Ich kann allerdings nur empfehlen, die eigenen Lieblingsbücher auch einmal dem RRT zu unterziehen. Mal sehen, ob sie einen nicht nur im Ganzen, sondern auch nur mit einem kleinen, willkürlich ausgewählten Satz wieder faszinieren können. In diesem Sinne:
„Pontresina empfing sie mit leichtem Regen und mit einem Schrecken, als hätte Sibylle auf ihrer ganzen Fahrt nicht einen Atemzug lang damit gerechnet, tatsächlich in Pontresina anzukommen. Pontresina bestand darin, dass der Zug einfach nicht weiterfuhr; schlimmer noch: um diese Zeit fuhr auch kein Zug mehr zurück. Sibylle kam sich wie in einer Falle vor.“ (Max Frisch, Stiller, Mein persönlicher KiE: ½ Absatz)
Lassen sich die oben genannten Kriterien auch auf den vorliegenden Text anwenden? Was sagt das über die literarische – und menschliche – Qualität des Kritikers? Und ist die Kategorisierung von Kritikkriterien nicht eine Perversion der Kritik, die damit ihres eigentlich –
larviert – wertschätzenden Charakters der besonderen Aufmerksamkeit entkleidet und zur algorithmisch-industriellen Abfallentsorgung wird?