Vor einiger Zeit hatte ich über „Deutschland im Visionsvakuum“ geschrieben. Die Analyse dieses Beitrags muss ich angesichts der neueren Ereignisse nun wohl noch einmal aktualisieren. Die damalige Diagnose: Die angestaute Wut über die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse in den letzten 15 Jahren wird durch die Aufnahme der Flüchtlinge erstmalig sichtbar und äußert sich in Teilen Deutschlands in Form von rassistischen Übergriffen (z.B. Clausnitz).

Auch heute finden solche Übergriffe immer noch in großer Zahl statt – sie werden und wurden nur nicht mehr medial skandalisiert. Dies war einerseits positiv, weil dadurch die nach solchen Vorfällen typische aufgebrachte mediale Sündenbocksuche vermieden wurde, die immer nur in stereotypen Erklärungen endete (beispielsweise „der braune Osten“). Dies war andererseits negativ, da die Medien dadurch begannen – trotz der vorhandenen Vorfälle – sich von der Politik in eine Art Dornröschenschlaf über die Zufriedenheit der Bürger einlullen zu lassen. Die schon damals beschriebene schizophrene Flüchtlingspolitik wurde einfach weiter verfolgt: Öffentlich wurde viel darüber gesprochen, wie Integration gelingen kann und wie wichtig sie sei, während realpolitisch die Bedingungen der Flüchtlinge weiter verschlechtert wurden (z.B. neue „sichere“ Herkunftsländer, Gewährung von Asyl nur noch als subsidiärer Schutz). Das Grundproblem, wie die Formel „Wir schaffen das“ inhaltlich gefüllt werden kann, wurde nicht angegangen – wie auch, wenn weiterhin an der neoliberalen Politik festgehalten werden muss.

Nun hat die Wut einen anderen Weg gefunden – den Weg über die Wahl ins Parlament. Die Wahl der AfD in die Parlamente erschien mir damals gar nicht als mögliche Option. Aus heutiger Sicht ist das fast verwunderlich – möglicherweise hatte die AfD zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht so deutlich auf das Label der flüchtlingsfeindlichen Partei gesetzt. Aber – und das beruhigend – die aufgebrachte mediale Sündenbocksuche hat schon einen Schuldigen für die Wahl der AfD gefunden: Es war der Osten, oder genauer: der ostdeutsche Mann!

Das ist nun wenig innovativ, denn dem dummen, ungebildeten Mann haben wir auch schon Donald Trump und den Brexit zu verdanken. Er ist überall. Aber, das ist das Besondere in Deutschland, er ist nicht sozial abgehängt, sondern kulturell. Das heißt, es geht ihm nicht wirtschaftlich schlecht, sondern er kommt mit modernen Entwicklungen beispielsweise der „Ehe für alle“ oder dem allgegenwärtigen Gendern nicht zurecht. Aber dass es nicht nur der kulturell abgehängte, ostdeutsche Mann gewesen sein kann, der der AfD zu ihrem Erfolg verholfen hat, zeigt eine Statistik: Immerhin 68 Prozent der AfD-Wähler leben im Westen!

Die Vorgeschichte

Die AfD hat aus dem linken wie aus dem rechten, konservativen Lager Stimmen gewonnen. Das erscheint zunächst erstaunlich, wenn man sich aber die Entwicklungen in diesen Lagern in den letzten Jahren anschaut, lässt sich dies recht einfach erklären.

Links

Dass die SPD die Idee der sozialen Gerechtigkeit mit der Agenda 2010 und der Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse verraten hat, ist kein Geheimnis mehr. Lediglich bei der SPD-Führung ist dies nicht angekommen und wird auch nicht mehr ankommen – weil es lukrativer ist (Posten in großen Koalitionen und der Industrie), an das aus konservativen Kreisen eingeflüsterte Märchen der Agenda 2010 als Jobmaschine zu glauben. Dass es einen Bedarf an einer SPD mit sozialdemokratischen Inhalten gibt, konnte man an dem Mini-Boom um Martin Schulz im Frühjahr 2017 erkennen. Dieser ebbte ab, als Schulz erklärte, dass er die Agenda 2010 nur kosmetisch korrigieren wollte und damit das Label „mehr Gerechtigkeit“ völlig inhaltsleer machte.
Dieser ausdauernde Verrat der SPD in Fragen der sozialen Gerechtigkeit hatte die Linkspartei zur letzten Instanz in diesen Fragen gemacht: Wenn man als Arbeiter beispielsweise Lohnsteigerungen, eine Abkehr von „flexiblen“ Arbeitsverträgen oder eine Stärkung der Rente wollte, konnte man nur Linkspartei wählen. Hinzu kam, dass die Linkspartei im Osten eine Volkspartei war, da sie auch noch zu Teilen aus PDS und SED bestand. Sie zu wählen, war wie Eulenspiegel oder Superillu zu lesen: Man vertrat damit die ostdeutschen Rechte gegenüber den Wessis.

Rechts

Im konservativen Lager gab es immer auch nationale Tendenzen: Die Angst vor dem Verdrängt-Werden der Deutschen im eigenen Land, also die Angst vor der „Überfremdung“ war unterschwellig präsent. Ein deutlicher, erster öffentlich sichtbarer Ausdruck dessen war die Debatte über die Thesen Thilo Sarrazins (vgl. hier). Ich hatte dessen Thesen damals wie folgt zusammengefasst:

„Die Ausländer integrieren sich nicht durch schulische Leistungen oder über einen ordentlichen Job. Stattdessen bedrohen sie uns nachts in der U-Bahn und auf dem Weg nach Hause. Tagsüber leben sie dann auf unsere Kosten von unserem Sozialstaat. Und da es ihnen damit so gut geht, pflanzen sie sich […] auch noch unentwegt fort – in Parallelgesellschaften, die in naher Zukunft unsere Hauptgesellschaft ersetzen werden.“

Über diese Thesen diskutierten die Journalisten und Politiker im Jahr 2010 hochaufgeregt, die Stammtische sagten im Stillen „Er hat ja Recht, aber so hätte er es nicht sagen sollen“ und 1,5 Millionen Deutsche kauften das dazugehörige Buch. Allerdings konnten die immer mal wieder begonnenen „Leitkultur“-Diskurse und „Law and Order“-Politik-Ankündigungen die national-konservative Wählerschaft noch beruhigen.

Die Flüchtlingskrise

Diese beiden Entwicklungen wären für die konservativen und die linken Parteien nicht problematisch gewesen, wenn es nicht die Flüchtlingskrise 2015 gegeben hätte. Ohne diesen Einschnitt hätten die national-konservativen Wähler ihr Kreuz weiterhin, wenn auch murrend, so aber doch bei der CDU gemacht. Im linken Spektrum hätte die Linkspartei dank der Thematisierung sozialer Gerechtigkeit vermutlich zunehmend Stimmen gewonnen. Aber die Flüchtlingskrise hat diese beiden Entwicklungen zum einen umgekehrt und zum anderen radikalisiert:

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In der Flüchtlingskrise hat die Linkspartei, wie auch die anderen „linken“ Parteien, eine radikale Willkommenskultur vertreten – gerade auch um sich von der CDU mit ihrer doppelzüngigen Willkommenskultur zu unterscheiden. Das Motto ist: „Jeder soll aufgenommen und niemand abgeschoben werden!“
Wenn sich die Arbeiter nicht vorher durch die Agenda-Politik der SPD schon verraten gefühlt hatten, so fühlten sie sich spätestens seit dem Eintreten für die Flüchtlinge von den linken Parteien verraten: Jahrelang sollten sie den Gürtel enger schnallen, weil es kein Geld gab, und nun plötzlich war Geld für die Flüchtlinge da. Die eigene, jahrelang erduldete schlechte ökonomische Lage wurde durch die Flüchtlingskrise national gewendet: „Wieso werden die besser behandelt als wir?“ Die Wut, die eigentlich eine Wut auf die Politik der letzten 15 Jahre hätte sein müssen, wurde auf die Flüchtlinge projeziert. Die soziale Frage wurde in den Augen der Arbeiter zur nationalen Frage. Und das Deutsch-Sein ist das Letzte, was ihnen als Vorteil gegenüber den Flüchtlingen bleibt.
Daher haben in meinen Augen so viele Arbeiter, so viele ehemalige LINKE-Wähler und soviele Ostdeutsche die AfD gewählt.

Rechts

Wenn man bereits vor der Flüchtlingskrise Angst vor „Überfremdung“ hatte, so wurde diese Angst durch die Krise maximal potenziert. Jeder einzelne Punkt, der in den Sarrazinschen Argumentation damals genutzt worden war, ist nun wieder aufgetaucht: Dass alle Flüchtlinge kriminell sind und es auf unsere Frauen abgesehen haben, bewies die Kölner Silversternacht. Dass die Flüchtlinge nur in unser Sozialsystem wollen, bewies die Unterscheidung zwischen „Wirtschaftsflüchtling“ und „politischem Flüchtling“. Und dass die Flüchtlinge nun ihre riesigen Familien nachziehen lassen dürfen, ist der ultimative Alptraum jedes Überfremdungs-Ängstlichen.
Eigentlich wollen diese Menschen nur Stabilität und Sicherheit für das, was sie sich aufgebaut haben. Nun ist all dies unsicher geworden. Und die Hauptverantwortliche dafür ist Angela Merkel: Sie persönlich hat all die Flüchtlinge eingeladen, sie hat Deutschland verraten und der Islamisierung preisgegeben. Deshalb gibt es im national konservativen Lager eine solch große Wut auf Angela Merkel. Diejenigen, die sie auf ihren Wahlkampfkundgebungen niedergebrüllt haben, sind dabei nur die sichtbare Spitze des Eisbergs. Der unsichtbare Rest hat einfach aus Protest die AfD gewählt – dies sind in meinen Augen die Motive der meisten AfD-Wähler im Westen und Süden gewesen. Aber auch im Osten dürfte dieses Motiv zur Wut über den Verrat der linken Parteien hinzugekommen sein.

Die offenen Fragen

Die Fragen, die sich nun stellen, sind: Kann die konservative Seite ihre national-konservativen Wähler wieder zurückgewinnen, ihnen wieder das Gefühl von Sicherheit und Stabilität geben? Kann die linke Seite die bei den Arbeitern aufkommende nationale Frage beiseite schieben und die die dahinter liegende soziale Frage beantworten?

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Bisher können die linken Parteien aus ihren antinationalistischen und auch humanistischen Grundprinzipien keine befriedigende Antwort auf dieses Problem finden – ja, sie sind nicht einmal in der Lage diese Frage überhaupt zu thematisieren, ohne sich gegenseitig vorzuwerfen, rassistisch oder nationalistisch zu sein (oder die Debatte hier). Sie haben sich eine neue Gretchenfrage aufdrücken lassen: Sag, wie hältst du‘s mit der Nation? Sind dir arme deutsche Arbeiter wichtiger als arme syrische Flüchtlinge? Traust du dich, auch „Nation“ zu sagen und ein Programm für „deutsche“ Arbeiter zu fordern?
Die Linke müsste erkennen, dass diese Fragen falsch gestellt sind, weil sie das Falsche betonen (das Nationale vor dem Sozialen), und es nur den Mächtigen nützt, dass die Linke sich daran zerreibt und spaltet. Sie muss stattdessen den Grundkonflikt offenlegen: Solange nämlich die Verkäuferin an der Kasse über die Flüchtlinge schimpft und was diese alles bekommen, solange ist der Manager sicher, dass sie nicht aufsteht und sich über ihren Lohn und ihre Arbeitsbedingungen beschwert und womöglich noch einen Betriebsrat gründen will.

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Im Gegensatz dazu kann die konservative Seite gar nicht so viel „klare Kante“ zeigen, wie nötig wäre, um Angela Merkels „Verrat“ wieder zu „sühnen“. Die Politik der kleinen Schritte, die den Flüchtlingen das Leben in Deutschland extrem erschwert und die weitere Flüchtlinge mit maximalen Mitteln aus Europa fernhält, genügt da nicht. Es ist nicht einmal so sehr das Problem, dass diese menschenfeindliche Politik nicht offen vertreten werden kann, ohne die christlichen Prinzipien zu verraten. Es ist vielmehr das Problem, dass sich diese kleinen Schritte nicht zu einem ähnlich großen Schritt aufsummieren lassen, wie es die damalige Entscheidung Angela Merkels in den Augen der national-konservativen Kreise darstellt. Es müsste eine große, flüchtlingsfeinliche Entscheidung geben, die die Rückkehr der CDU ins national-konservative Lager eindeutig versinnbildlicht.
Andere Wege, um auf das national-konservative Lager zuzugehen, werden das Problem nicht lösen: Steuererleichterungen beispielsweise, wie es die baldige Jamaika-Koalition sicherlich planen wird, werden das verloren gegangene Sicherheitsgefühl nicht wiederherstellen können. Den National-Konservativen geht es ja materiell nicht schlecht – gerade diese materielle Sicherheit wird in ihren Augen ja durch die Flüchtlinge bedroht: Wenn sie mehr Geld haben, haben sie auch mehr zu verlieren.
Wahrscheinlich wird erst Angela Merkels Rücktritt diesen Verrat wirklich „sühnen“ können. Der Wunsch nach einem Führer, der die deutsche Nation gegen die Überfremdung verteidigt, ist in diesem Lager latent spürbar. Der einzige Trost ist wohl: Momentan wollen das nur 12,6 Prozent der Bevölkerung. Und wenn man die Arbeiter abzieht, die sich verraten fühlen, wollen es noch weniger.