Wenn ich durch die Stadt laufe, begegne ich häufig einem spannenden Phänomen. Dazu muss ich jedoch zunächst etwas gestehen: Ich schaue fremden Menschen im öffentlichen Raum ins Gesicht! Das macht man ja eigentlich nicht – normalerweise schaut man nur stur auf den eigenen Weg oder das eigene Smartphone und achtet unterbewusst darauf, niemanden umzurennen. Der öffentliche Raum ist ja für die meisten Menschen nur ein notwendiges Übel: Sie müssen es durchqueren, wenn sie von einem Punkt zum nächsten gelangen wollen. Sie sind in diesem Raum nicht anwesend, weil sie in ihren Gedanken entweder schon mit den Notwendigkeiten des nächsten Raumes oder noch mit den Geschehnissen des vorherigen Raumes beschäftigt sind.
Wenn man aber anfängt, fremden Menschen in diesem Nicht-Raum ins Gesicht zu schauen, dann entdeckt man etwas Besonderes: Man kann das „Grundgesicht“ der Menschen sehen. Dieses Gesicht ist das reine, allen Emotionen vorgelagerte Gesicht. Es zeigt die tief eingegrabene Grundstimmung eines Menschen: Bei vielen Menschen ist es schwer und traurig, bei manchen Menschen aber auch lustig und verschmitzt. Entscheidend sind dabei die Mundwinkel: Sind sie durch die Schwere des Lebens bereits nach unten gezogen oder wandern sie leicht nach oben – so als würde man gerade noch an einen längst vergangenen Witz denken.
Das Grundgesicht ist dabei wie die Standardversion eines Programms. Zunächst hat man nur diese Standardversion, aber man kann bestimmte Funktionen hinzubuchen: Für langes An-der-Kasse-Anstehen die Genervt-Funktion, für dringendes Irgendwohin-Wollen die Gehetzt-Funktion, für plötzliches Von-Fahrradfahrern-überrascht-Werden die Wut-Funktion, usw. Insbesondere Jugendliche und coole Studenten leisten sich außerdem im öffentlichen Raum noch eine Ich-bin-Unberührbar-Funktion, also einen Blick, der besagt: „Quatsch mich nicht an!“. Aber je älter sie werden, desto weniger Aufwand betreiben die meisten Leute, um ihr Grundgesicht zu verbergen. Im öffentlichen Raum werden dann auch nur noch die negativen Funktionen hinzugefügt.
Manchmal frage ich mich, wie diese Gesichter wohl im privaten Raum bei einem netten Gespräch aussehen könnten: Wie sich die Lächel-Funktion oder die träumerische Funktion zeigen würde. Jeder Mensch hat ja etwas, das ihm wirklich am Herzen liegt, etwas, das ihm ein Lächeln aufs Gesicht zaubert. Schade ist nur, dass der Gedanke daran und der damit verbundene Blick, es so selten in den öffentlichen Raum schaffen. Und noch viel seltener passiert es wohl, dass diese Herzensangelegenheit es schafft, das Grundgesicht eines Menschen zu prägen.
„Im scheinbar
grundlosen Lächeln
offenbart sich
die Natur der Seele.“
(Hans Kruppa)