Auf meinem alten Handy kann ich bis zu 150 SMS speichern. Für heutige Smartphone-Nutzer ist dies sicherlich eine drollige Vorstellung. Für mich bedeutet es aber, dass ich nur wenige wertvolle Nachrichten aufheben kann. Darunter sind dann wirklich nur besondere Nachrichten wie beispielsweise Meldungen über neu geborene Babies oder die ersten erfreulichen Kontaktaufnahmen von späteren Freundinnen (aber natürlich auch ihre letzten häufig unschönen Nachrichten kurz vor dem Ende). Eine besondere Nachricht habe ich auch von einem Freund aufgehoben. Sie lautet schlicht: „Wir haben uns also nun entschieden aufzuhören.“
Sie erinnert mich an ein Phänomen, dass ich die „Schlussstrich-Zieh-Schwäche“ taufen würde. Vor dieser Nachricht über das „endgültige“ Ende der Beziehung, hatte ich in etwa dreimonatigen Abständen schon drei dieser „endgültigen“ Nachrichten erhalten. Jede dieser Nachrichten war auch durchaus ernst gemeint gewesen, denn jeder waren mehrstündige Gespräche mit vielen Tränen und einer finalen Entscheidung vorausgegangen.
Ich kannte dieses Phänomen bis dahin gar nicht. Wenn ich Schluss machte, dann bedeutete dies auch Schluss. Und Schluss, das hieß für mich: Kein weiteres Sehen, kein weiteres Zusammenwohnen, kein weiterer Sex, kein weiterer Kontakt. Dass ich damit zu den radikalen Schlussmachern zählte, wurde mir erst damals bewusst. Viel häufiger sind skurrile Mischformen und damit die genannte „Schlussstrich-Zieh-Schwäche“: Also Menschen wohnen weiterhin zusammen oder haben noch Sex oder telefonieren noch regelmäßig – obwohl sie sich eigentlich getrennt haben.
Vielleicht kann man – auch wenn das sehr rational nach einer Pro-Contra-Liste klingt – die Endphase einer Beziehung mit einer schwankenden Waage vergleichen: Auf der einen Seite liegen die Gründe für und auf der anderen Seite die Gründe gegen die Beziehung. Wenn die negative Seite der schwankenden Waage schwerer wiegt, wird die Beziehung beendet. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Gewichte der positiven Seite damit verschwunden sind. Gerade vor dem Hintergrund der möglichen Einsamkeit oder der unklaren Zukunftsperspektive wiegen die positiven Gewichte wieder schwerer und die Gründe für die Trennung verschwimmen. Wenn zusätzlich Kinder im Spiel sind, fällt die Entscheidung oftmals noch schwerer. Sie können der Waage eine dritte Waagschale geben, die unabhängig von den Gründen für oder gegen die Beziehung mit ausbalanciert werden muss.
Noch komplizierter wird es dadurch, dass beide Partner nicht zur gleichen Zeit vor derselben Waage stehen. Oft ist es so, dass überhaupt nur ein Partner innerlich davor steht, um eine endgültige Entscheidung zu treffen – während der andere diese Endgültigkeit kaum erahnen kann. Eine solche Situation führt meist zu einer asymmetrischen Trennung: Einer trennt sich, der andere wird – mehr oder weniger plötzlich – vor vollendete Tatsachen gestellt. Die Entscheidung für eine Trennung allein zu treffen und damit für den anderen mitzuentscheiden, erfordert viel Sicherheit und Stärke. Dies kann – besonders in Anbetracht der oben beschriebenen schwankenden Waage – sehr schwer sein. Hinzu kommt oftmals auch noch ein schlechtes Gewissen: Derjenige, der sich trennt, hat das Gefühl, den anderen alleine in dem brennenden Haus zurückzulassen, das doch einmal die gemeinsame Beziehung war. Das drängt viele dazu, als Feuerwehr den Brand löschen zu wollen, den sie doch als Brandstifter zuvor selbst gelegt haben. Man will die Trennung – fast wie ein Paar – gemeinsam verarbeiten.
Bei solchen asymmetrischen Trennung führen das schlechte Gewissen und die noch immer vorhandenen positiven Gewichte auf der Waage häufig zum Verwischen des eigentlich klar gezogenen Schlussstrichs. Dann kommt es zur „Schlussstrich-Zieh-Schwäche“ und den beschriebenen, viermaligen „endgültigen“ Trennungen.
Wenn zusätzlich noch Kinder im Spiel sind, passiert in solchen Situationen aber auch oft etwas anderes: Man weicht der Entscheidung aus – paradoxerweise durch eine Flucht nach vorn. Dann kauft man sich – statt sich zu trennen – lieber ein Haus oder legt sich ein zweites oder drittes Kind zu. Die neue Aufgabe soll wieder zusammenschweißen und all die Zweifel vergessen lassen, die man spürte, als man noch vor der schwankenden Waage stand. Allerdings wird das brennende Haus ja nicht gelöscht, nur weil man die brennenden Zimmer nicht mehr betritt und lieber einen Anbau mit neuen Zimmern plant. Daher werden sich die Zweifel irgendwann auch hier einen Weg durch all die Ablenkungen bahnen und wieder hervorbrechen.
In gewisser Weise ist die Ambivalenz bei asymmetrischen Trennungen aber auch verständlich. Je länger die Beziehung vorher war, desto härter wäre wohl ein einseitiger und sofortiger Schlussstrich. Vielleicht ist daher sogar gerade meine oben beschriebene „Schlusstrich-Zieh-Stärke“ ein wenig erklärungsbedürftig. Möglicherweise zerre ich die Waage durch die Entscheidung absichtlich so stark auf der negativen Seite nach unten, dass alles Positive, das noch in der anderen Waagschale lag, dadurch fortfliegt. Zumindest ist das wohl die Hoffnung beim radikalen Schlussmachen. Der Preis dafür ist jedoch, das ein ausgewogenes Bild der Beziehung verloren geht, und die Einordnung in die eigene Beziehungsgeschichte erschwert wird, weil man die Frage, warum man die Beziehung überhaupt geführt hat, nicht mehr beantworten kann. Eine ausgeprägte „Schlussstrich-Zieh-Stärke“ kann daher nicht nur für die verlassenen Partner sehr schmerzhaft, sondern auch für die persönliche, emotionale Verarbeitung hinderlich sein.
Doch was ist nun letztendlich besser: Unmenschlich harter Schlussstrich, der beide Seiten mit der Verarbeitung allein zurücklässt, oder langes ambivalentes Schwanken, das eine schmerzhafte, gemeinsame Verarbeitung einschließt? Möglicherweise ist es aber auch so, dass man gar keine Wahl hat, wie die eigene Beziehung letztlich endet. So wie jeder Mensch wohl seinen passenden persönlichen Tod in sich trägt (Rilke), so trägt vielleicht auch jede Beziehung das zu ihr passende Ende in sich.
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