Manchmal bin ich wirklich erstaunt über die Dynamik und die Rollenverteilung, die es in Gesprächen geben kann. Ich persönlich bevorzuge ja eigentlich Zweiergespräche. Dieser Wunsch ist für andere oft nicht nachvollziehbar und wirkt manchmal merkwürdig exklusiv. Dabei gibt es keine Form des Gesprächs, bei der man mehr von einem anderen Menschen erfahren und sich diesem näher fühlen kann – vorausgesetzt natürlich, dass beide ein gleich großes Interesse am anderen haben.
Jede zusätzliche Person verringert den möglichen Grad an Privatheit und Vertrautheit exponentiell. Das Gespräch wird anfälliger für die Selbstdarstellung einzelner und den inneren Rückzug von anderen, weniger mitteilsamen Personen. Da es in meinem Leben leider nicht möglich war, immer nur Zweier-Gespräche zu führen, konnte ich die Gruppengesprächserfahrungen immerhin dafür nutzen, verschiedene Gesprächstypen zu entdecken. (Vor einiger Zeit hatte ich das auch schon einmal bei Partytypen gemacht.)
Am meisten ins Auge, bzw. ins Ohr, stechen natürlich zunächst die Vielredner, die gerne im Mittelpunkt stehen. Dieser Typus unterscheidet sich inhaltlich in zwei Untertypen: Den Wissensvielredner und den Erfahrungsvielredner. Um dies an einem simplen Beispiel zu illustrieren: Jemand sagt in einem Gespräch den folgenden Satz: „Paris ist eine schöne Stadt“. Daraufhin sagt der erste Typus „Wusstet ihr eigentlich, dass es in Paris die größte Sonnenuhr der Welt gibt?“ und erklärt dann im weiteren Gesprächsverlauf auch noch grundsätzlich das Funktionsprinzip einer Sonnenuhr an sonnenarmen Wintertagen sowie deren erste, geschichtlich nachweisbare Nutzung durch das Volk der Sumerer. Der zweite Typus sagt im Gegensatz dazu: „Das stimmt! Ich war im letzten Jahr dort und habe eine unglaublich schöne Brasserie auf dem Montmartre entdeckt. Ihr glaubt nicht, was mir da passiert ist…“. Es folgt meist eine, für eine Großgruppe viel zu detailreiche Schilderung einer Einzelepisode, an deren Ende eine mittelmäßige Pointe steht. Wenn es mehr als einen Vielredner in einer Gruppe gibt, dann kann man zwischen verschiedenen Gesprächsführungsstrategien unterscheiden: Der Golf- und der Tennisstrategie. Beim Golfspielen hat jeder seinen eigenen Ball, also seine eigene Geschichte, den bzw. die er ins Ziel bringen möchte und dafür Applaus von den Zuschauern bekommen will. Beim Tennis hingegen ist es ein Spiel mit einem einzigen Ball, also mit einem Thema, das solange geht, bis der andere einen Schlag nicht mehr parieren kann.
Trotz ihrer oftmals unangenehmen Geltungssucht werden die Vielredner von vielen Gesprächsteilnehmern dennoch geschätzt: Jemand muss doch was erzählen, sonst wäre da doch nur Schweigen! Die Vielredner erfüllen daher eine wichtige soziale Funktion: Sie geben ihre privaten Geschichten oder ihr unnützes Wissen preis und entlasten damit die Gruppe davon, Schweigen aushalten oder ein passendes Thema finden zu müssen. Niemand weiß, ob sich ohne die Vielredner ein großgruppengeeignetes Gesprächsthema finden würde – ein Thema, das nicht zu privat wäre und zu dem auch schüchterne Menschen in der Öffentlichkeit etwas beitragen würden. Die Suche nach einem solchen Thema wird nur sehr selten gestartet, weil es immer Personen gibt, die das Schweigen nicht aushalten, oder Vielredner, die das entstandene Aufmerksamkeitsvakuum füllen müssen.
Zudem gibt es auch zwei Typen, die in Gesprächen auf die Geschichten oder das Wissen der Vielredner angewiesen sind: Die Frager und die Clowns. Die Frager halten die möglicherweise entstehende Stille nicht aus, wenn die Vielredner doch einmal schweigen. In einer Art Symbiose bringen sie die Vielredner durch beständiges Fragen dazu, ihre Erzählungen immer weiter auszudehnen – bis sich auch die letzte Spannung aufgelöst hat und alle Restpointen in homöopathische Dosen verdünnt wurden. Die Clowns hingegen brauchen die Erzählungen, um darauf aufbauend ihre Pointen einzustreuen und Lacher zu erzielen. Eigene Geschichten zu erzählen, wäre beiden Typen vermutlich viel zu privat.
Neben diesen Profiteuren gibt es aber häufig auch eine Gruppe, die in solchen Gesprächen verloren geht: Die Schweiger. Sie ziehen sich in eine Art innere Emigration zurück und hängen ihren eigenen Gedanken nach. Was genau in ihnen vorgeht, ist unbekannt: Möglicherweise stellen sie den Einkaufszettel für den nächsten Tag zusammen, möglicherweise finden sie den Sinn des Lebens.
Einen kleinen Einblick erhält man nur durch einen speziellen Mischtypus: Den abwesenden Vielredner. Wenn das Thema für einen Vielredner zu einem Zeitpunkt nicht passt, um dazu eine Geschichte zu erzählen, dann kann es sein, dass er sich ebenfalls in sich zurückzieht und schweigt. Urplötzlich und ohne Rücksicht auf den Verlauf, den das restliche Gespräch während seiner mentalen Abwesenheit genommen hat, äußert er dann das Ergebnis seines inneren Gedankengangs. Er wirft damit plötzlich einen zweiten Tennisball ins Spiel und einige Spieler fangen dann – wahrscheinlich aus Höflichkeit – an, mit dem neuen Ball zu spielen.
Diese verschiedenen Typen sind wie Rollen in einem Theaterstück, die in einem größeren Gespräch verteilt werden. Wahrscheinlich hat jeder Mensch eine gewisse Vorliebe für eine dieser Rollen. Ein Wechsel der Rolle ist aber auch möglich, inbesondere dann, wenn es viele schüchterne und wenig sendungsbewusste Gesprächsteilnehmer gibt – getreu dem Motto „Der Einsilbige ist unter den Stummen König“. Umgekehrt kann natürlich ein Vielredner auch durch große Konkurrenz zum abwesenden Schweiger oder zum Clown werden. Letztendlich entscheiden das Mischungsverhältnis der Gesprächsteilnehmer und deren persönliche Rollenvorlieben darüber, wer welche Rolle in einem Gespräch übernimmt.
Einen Hoffnungsschimmer gibt es allerdings auch für mich, der ich ja eher private Zweiergespräche bevorzuge: Je größer eine Gruppe wird, desto eher gibt es auch die Chance, dass wieder kleinere persönlichere Gespräche entstehen!
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