Ich bin in letzter Zeit immer wieder überrascht, aus wievielen Menschen plötzlich erzliberales und sozialstaatsfeindliches Gedankengut heraustritt. Heute konnte ich erst wieder ein solches Gespräch belauschen. Es enthielt die üblichen Floskeln über den Sozialstaat: Er böte eine soziale Hängematte für Arbeitslose und motiviere sie nicht zur Arbeit, da sie genausoviel für Nichtstun wie für eine geregelte Arbeit bekommen. Außerdem könne man denen zwar Geld geben, müsse aber auch eine Gegenleistung dafür einfordern können.
Es ist wirklich erstaunlich, wie stark die Leistungslogik unsere Gesellschaft prägt. Ich vermute in zehn Jahren kann man den Wohlfahrtsstaat der siebziger Jahre, also den fürsorgenden und nicht den leistungsfordernden Staat gar nicht mehr dagegen verteidigen. Die Logik, dass man nur dann etwas gibt, wenn man etwas angemessenes dafür erhält, wird immer tiefer verankert.
Darum soll es hier aber nicht gehen. Interessant finde ich vielmehr die Menschen, die heute sowas vertreten. Es ist eine strikte Leistungslogik, die von anderen genau die gleichen Opfer verlangt, die man selbst erbracht hat. Es steht bei diesen Menschen wohl eine enorme Leidenserfahrung im Hintergrund – sie haben eine große Leere und Einsamkeit in ihrer Kindheit gespürt. Ihr Weg damit umzugehen war wohl der des Machens, des Leistens. So werden die anderen auf mich aufmerksam, ich habe Bewunderer, die meine Energie und Tatkraft bestaunen. Ich definiere mich als Gewinner, als Aufsteiger. Wenn ich selbst etwas anpacke, klappt das, dann kann ich meine Situation auch verändern. Das Bild des Machers überbrückt die vielen seelischen Verletzungen. Der ursprüngliche Mangel wird durch ein überbordendes Selbstvertrauen aufgefangen. Das erkennt man bei den späteren Machern kaum noch, weil ihnen ihre Rolle, ihr Selbstverständnis ins Blut übergegangen ist.
Das ist glaube ich ein häufig beschrittener Weg. Er kann allerdings noch gesteigert werden, indem die eigene Entbehrungs- und Kampfgeschichte auf andere ausgeweitet wird. Die Aussage lautet dann: „Ich habe mich hochgekämpft, warum sollten andere das nicht auch tun?“ Es entsteht eine Abscheu, ein Haß auf Nicht-Macher – auf alles, was die eigene (Leidens-)Geschichte eigentlich in Frage stellen könnte. Das sind dann Faulpelze, Schmarotzer, die den wahren Leistungsschaffenden, also uns, auf der Tasche liegen. Wenn man das denkt, dann beginnt man FDP zu wählen.
Das Traurige daran ist, dass es keinen Ausweg aus dieser Logik gibt: Jede Verdeutlichung, dass nicht jeder sich hochkämpfen muss, dass auch nicht jeder das gleiche leisten kann, würde am grundlegenden Selbstbild kratzen und muss damit strikt abgelehnt werden.
Es könnte auch sein, dass man in einem Milieu sozialisiert wird, in dem die Logik des Leistens selbstverständlich ist und das Schimpfen auf die Schmarotzer Usus ist. Das ist vielleicht in gutbürgerlichen Kreisen mittlerweile üblich. Tendenziell ist das Durchbeißen und Leistungszeigen aber eine Aufsteigermentalität. (In einem symbolischen Sinn ist das oben beschriebene Selbstbild auch das eines Aufsteigers – ein Aufsteiger aus dem Leiden und dem Nicht-Sein.) Aufsteiger haben Angst, ihre neu errungene Position wieder zu verlieren oder in ihrem neuen Milieu nicht anerkannt zu werden oder gar als das geoutet zu werden zu werden, was sie sind: Emporkömmlinge aus einer niederen Schicht. Deshalb pochen sie dann auf ihre Leistung und verurteilen alle, die ihnen nicht folgen konnten. Sie müssen eine möglichst große Distanz zwischen sich und die Nicht-Leister, also das asoziale Pack, bringen. Nur dann können sie sicher in ihrer neuen Situation sein.
Ich kann mit diesen Menschen nicht viel anfangen. Außer, dass sie mich regelmäßig auf die Palme bringen. Ich hoffe dann immer, sie mit kokosnussigen Argumenten an der richtigen Stelle am Kopf zu treffen. Vielleicht ist das ja doch nur ein Hirndefekt.
Vielleicht ist es aber ein emotionales Mangelsyndrom und man muss sie einfach nur mal umarmen und knuddeln. Daher an dieser Stelle der Aufruf: „Umarmt die Liberalen, wo ihr sie trefft.“
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