Dieser ganze Hype um Gauck ist echt erstaunlich! Ich mag Gauck nicht. Ich habe mir eine Rede von ihm angehört, die er auf dem Freiheitskongress der Stiftung für die Freiheit gehalten hat (Link). Falls ihr eine Stunde Zeit haben solltet, könnt ihr euch die Rede ja mal anhören.
Aber nur zur Zusammenfassung: Gauck ist der perfekte Kandidat der FDP, und das mit vollem Herzen. Deshalb ist er auch ein Mediendarling. Er steht für die Reformpolitik im Stile der Agenda 2010, er will unsere Gesellschaft in eine Gesellschaft der Freiheit formen und dabei ist ihm Freiheit das wichtigste, nach dem die anderen Werte alle zurückstehen müssen (also Gerechtigkeit und Gleichheit, weil bei einer Bevorzugung der anderen immer auch die Freiheit leiden würde). Er ist ein Apologet des Status quo. Man merkt das deutlich an seiner Rede. Inhalt ist die Frage, warum die Ostdeutschen denn nach all diesen wunderbaren Dingen, die ihnen gegeben wurden, noch immer unzufrieden sind mit der Demokratie. Gaucks Antwort: Weil sie 56 Jahre in einer Diktatur gelebt haben (1933-1989) und die Demokratie daher einfach noch nicht gelernt haben können. Er meint das „nicht wertend“, wir sind einfach noch nicht reif. Reif sein, bedeutet für ihn, nicht mehr spinnerten Visionen nachzuhängen (Idealismus ist ihm erstaunlicherweise absolut fremd), sondern zu erkennen, das wir in der besten aller Gesellschaften leben. Das schreckliche daran ist, dass er das alles extrem psychologisierend vorträgt, also immer wieder auf psychologische Faktoren zurückgreift, um soziale Probleme zu erklären. Unsere gesellschaftlichen Probleme, das Auseinanderdriften liegt somit in den Psychen der Menschen begründet und hat keinen größeren Rahmen. Es gibt den aufgeklärten Menschen, der sich am „seriösen Diskurs“ beteiligen kann, aber dafür muss er bestimmte Positionen räumen, erst dann darf er Teil der Gesellschaft sein.
Gauck ist, meines Erachtens, ein Mensch, der unglaublich durch die Wende geprägt wurde. Das damalige Streben nach Freiheit hat sich so tief in ihn eingebrannt, dass er nun kein anderes Wahrnehmungsmuster mehr hat. Eigentlich müsste er dann auch gegen die ganzen Bestrebungen zur gesellschaftlichen Überwachung kämpfen und müsste für die liberalen Bürgerrechte einstehen (weiß ich nicht, ob er das macht). Er lehnt aus dieser Wahrnehmung alles ab, was nach Gleichmacherei klingt. Dass Gerechtigkeit ein Problem unserer Gesellschaft ist, scheint er von dieser Position aus nicht zu sehen. Sein politischer Weg führte vom Bürgerrechtler zur FDP, auch wenn er sich als keiner Partei zugehörig ansieht. Das ist ja sehr gut verständlich, da das ostdeutsche Streben nach Demokratie ein genuines FDP-Thema ist. Eigentlich erstaunlich, dass die Grünen soviele Bürgerrechtler zu sich ziehen konnten. Allerdings und das erscheint mir wesentlich: Er kam aus dieser freiheitskämpferischen Position in diese Partei und hatte, so könnte man maliziös ergänzen, 56 Jahre Diktatur hinter sich, den westdeutschen Sozialstaat kannte er nicht, den ostdeutschen lehnte er konsequent ab. Er hatte also keinerlei Erfahrung und war noch nicht reif für den Umgang mit dem Sozialstaat. Mit dieser Vorprägung kam er dann mental in die FDP, die die Reform und damit den Abbau des Sozialstaats predigte. Er übernahm all die Interpretationen, da ihm ja keine anderen zur Verfügung standen. Seine politische Sozialisation fällt in die Zeit des „Sanierungsfalls Deutschland“. Er ist daher eigentlich monothematisch auf das Thema Freiheit und ihre Bedrohung beschränkt.
Dass die SPD und die Grünen nun diesen FDP-Politiker vorschlagen, spricht Bände. Einerseits ist es natürlich ein Coup, weil dann die Linke nicht mit ihnen abstimmen kann und sie nicht wieder in die Bredouille einer Medienkampagne gegen Rot-Rot-Grün geraten. Andererseits ist es bezeichnend, da dieser Politiker für die ganze Reformpolitik der Agenda 2010 steht und kein erkennbares soziales Gerechtigkeitsgefühl hat oder dies zumindest immer der Freiheit unterordnen würde. (Welche Freiheit meint er denn eigentlich: Die Freiheit des Marktes, die ungerechtfertigterweise durch den Sozialstaat beschränkt wird, die Freiheit vor Eingriffen in die Privatsphäre? Die Freiheit des Diskurses meint er, nach allem was ich gehört habe, mit Sicherheit nicht, da man ja eine Reife und Einsichten braucht, um daran teilzunehmen.)
Ein Präsident des Volkes ist er also beileibe nicht. Vielleicht ein Präsident der sechs Prozent FDP-Wähler. Und natürlich ein Präsident der Journalisten. Wenn man sich anschaut, wer alles Gauck lobt, dann weiß man ungefährt, wofür er steht. Das viele Lob aus dem extrem konservativen Lager (Welt, FAZ), bedeutet nicht, dass er ein Präsident aller Deutschen sei, sondern, dass er genau deren Kandidat ist. Auch der Boulevard hat sich auf Gauck eingeschossen (BAMS, BILD). Diese Medien projezieren all das in Gauck, was Wulff angeblich nicht hat: Charisma, Lebenslauf, Eloquenz, etc. In dieser Projektion gehen aber seine Inhalte verloren. Die Leute beginnen zu glauben, er sei ein Volkspräsident. Wie das ja nach medialer Darstellung auch Horst Köhler gewesen sein soll. Gauck wäre nun die um intellektuelle Fähigkeiten bereicherte Variante dieses Volkspräsidenten.
Aber das ist er nicht. Er steht für die Reformen, für den Abbau des Sozialstaats, für die Stärkung der Eigeninitiative, für „Leistung muss sich wieder lohnen“. Und dieses ganze Programm wird aber noch zusätzlich verpackt in psychologisierende Redeweisen, die die gesellschaftlichen Probleme auf Erkenntnisprobleme des Individuums reduzieren. Er ist ein ziemlich guter Demagoge. Nachdem ich seine Rede vor der FDP-Stiftung gesehen hatte, habe ich mir gewünscht, dass Christian Wulff Bundespräsident wird. Wenn man den jetzigen medialen Hype zugrunde legt, macht mir Gaucks Präsidentschaft Angst. Er würde Reden gegen den Sozialstaat, die soziale Hängematte halten und von den Medien bejubelt werden. Das höhlt den Sozialstaat aus und spaltet die Gesellschaft weiter. Wenn ich in der Bundesversammlung säße, ich würde Wulff wählen.
Hier auch noch ein Link zu einem ganz guten Überblicksartikel, in dem auch einige Quellen zu Gaucks Anti-Sozialstaats-Position genannt sind: Spiegelfechter.
Bild: By Tohma (CC BY-SA 4.0)
schöner Artikel, nur der zweite Absatz scheint mir ein bißchen zu kurz gegriffen zu sein. Ich glaube, alle Ostdeutschen wurden stark von der Wende geprägt. Der unbedingte Ruf nach Freiheit – ich habe das jetzt bei Gauck nicht überprüft – läßt sich nicht nur aus dem Wenderlebnis ableiten. Man könnte heute und als Ostdeutscher und ich hoffe, auch als ehemaliger DDR-Bürgerrechtler, durchaus einen differenzierten Freiheitsbegriff vertreten, ohne damit seine Ideale von 1989 zu verraten. Ich denke eher, es paßt in die aktuelle Stimmung in der deutschen Medienlandschaft (Du hast die einschlägigen Meinungsblätter ja zitiert), einfach einen passenden Sozialabbau-Kandidaten zu hypen, der noch dazu aus dem Osten die Schuld bei den anderen ablädt. Wie gesagt, ich hab mir seine Rede nicht angehört und kenne Gauck auch sonst weiter nicht, aber nach dem, was Du schreibst, vereinigt er meiner Meinung nach die passenden Eigenschaften: Ossi, der den Sozialabbau befürwortet und psychologisierend (und damit verschleiernd) dem Einzelnen die Verantwortung für sein (unterpriviligiertes) Dasein zuschiebt. Fehlt nur noch der Begriff „Sozialdarvinismus“ oder gibts den nicht mehr?
Die Frage ist nur, wie man von der Wende geprägt wurde.
Meine Wendeprägung ist eine ganz andere als deine. Ich habe die Wende nur durch die extreme Verunsicherung meiner Eltern vermittelt wahrgenommen. Meine politische Sozialisation begann erst mit der rot-grünen Regierung und fiel damit in die Zeit des Sozialstaats“um“baus. Die Wende hat mich also in meinen politischen Ansichten nicht mehr so stark geprägt. Die gegenwärtige Freiheit habe ich einfach als gegeben erfahren.
Meine Eltern sind beispielsweise auch durch die Wende geprägt, aber ganz anders als Gauck: Sie sind mittlerweile extreme Verteidiger des gegenwärtigen Systems. Sie haben gelernt, dass man sich anpassen muss, um nicht unterzugehen. Aber die Freiheit ist ihnen auch nicht so wichtig. Ich glaube, bei ihnen war es eher die Erfahrung existentieller Unsicherheit gepaart mit der erzwungenen Aufgabe der Identifikation mit dem vorherigen System, sie waren quasi geistig-ideelle Heimatlose. Das aber führte zu einem Lernprozess, der sie die Lektionen des Kapitalismus in wenigen Jahren schlucken ließ. Leistung und Sich-Durchsetzen-Müssen sind das, was bei ihnen hängen blieb.
Also ich finde, Freiheit ist immer so ein schillernder Begriff, der in der Werbung immer so mit kreisenden Adlern und fliegenden Haaren in einem Cabrio daherkommt. Aber ich denke, gerade die andere Seite der so genannten Freiheit ist genau die von Dir beschriebene Erfahrung existenzieller Unsicherheit, „another word for nothing left to lose“. Und die ist meiner Meinung nach verbeiteter als der Adler und die Haare im Cabrio. Deswegen hat Freiheit (wenn sie der Tausch für abgeschaffte soziale Gerechtigkeit in einem Staat sein soll) einen sehr schalen Beigeschmack.