In der letzten Sendung von „Neues aus der Anstalt“ wurde eine Frage diskutiert, die ich mir auch schon häufig gestellt habe: Glauben Politiker eigentlich das, was sie sagen, selbst?
In einem schönen Dialog zwischen Erwin Pelzig und Georg Schramm unterschied Pelzig nach Hannah Arendt zwischen dem Lügner und dem Verlogenen. Der Lügner weiß, dass er lügt – er kennt also noch die Wahrheit. Der Verlogene hingegen kennt die Wahrheit nicht mehr, er hat die Lüge verinnerlicht. Die Frage war nun: Was ist Angela Merkel? Verlogene kann sie nicht sein, da sie dann verinnerlichte Ansichten haben müsste. Lügnerin kann sie auch nicht sein, da sie, wie Pelzig anmerkt, das alles doch gar nicht wissen will, denn „die Wahrheit legt einen Menschen fest“.
Ich glaube, der Ausweg aus diesem Dilemma ist, dass es für Politiker verschiedene Ebenen der Wahrheit gibt. Es scheint für sie so etwas wie konzeptionelle Wahrheiten zu geben, die sich aus ihren politischen Denkgebäuden zwangsläufig ergeben. Ein Beispiel: Wenn Angela Merkel sagt, die Griechen müssen ihre „Hausaufgaben“ machen, meint sie damit nicht gleichzeitig, dass millionenfaches Leid durch eben diese „Hausaufgaben“ entsteht. Solange der Blick auf der konzeptionellen Wahrheitsebene des argumentativ in sich geschlossenen Austeritäts-Denkgebäudes liegt, kann sie das Leiden ausblenden. Sie muss sich damit einfach nicht befassen, da sie auf einer anderen, einer abstrakteren Ebene argumentiert. Sie steht nicht auf der konkreten Straße in Griechenland, sie sitzt im gefestigten Denkgebäude in Brüssel und Berlin. Leiden? Das sind alles Einzelfälle. Selbst die Statistik, als Form der aggregierten Einzelfälle, hat es schwer die in sich geschlossene Wahrheitsebene dieser Denkgebäude zu erreichen und infrage zu stellen.
Das ist der Wahrheits-Ausweg von Angela Merkel: Die Vermeidung der konkreten Wahrheitsebene! Im Gegensatz dazu lebt die Opposition davon, ihr genau diese Ebene vorzuhalten – sei es anhand von Einzelfällen oder von Statistiken. Erreicht wird das Denkgebäude der Regierung dadurch aber, wie gesagt, nicht oder nur sehr selten. Es existiert in den meisten Fällen unabhängig davon weiter und wird argumentativ nur von sich selbst getragen.
Allerdings darf man hier nicht den Fehler begehen, dass das Denkgebäude nicht weiter ausgebaut wird. Das geschieht jedoch heutzutage hauptsächlich durch PR-Agenturen, wie Erwin Pelzig das gestern ebenfalls schön darstellte. Dann wird aus der „Bankenkrise“ eine „Staatsschuldenkrise“, aus einem „Mindestlohn“ eine „Lohnuntergrenze“ oder ein Betreuungsgeld zur größeren Wahlfreiheit der Familien eingeführt, etc. Das alles geschieht aber doch nach Vorgaben, die Argumentationen werden nicht aus der Luft gegriffen.
Eine Frage an die PR-Agentur ist dann beispielsweise: Wie kann ich in einer Gesellschaft, die sich immer offener und toleranter sehen will, darstellen, dass ich gegen die Möglichkeit der Kindesadoption von homosexuellen Paaren bin? Da kommt dann raus: Das Kindeswohl ist gefährdet. Gegen Kindeswohl kann man auf der abstrakten Wahrheitsebene nur schwer argumentieren. Problematisch wird es jedoch, wenn man mit der Frage auf der konkreten Wahrheitsebene konfrontiert wird. So wie es in der Wahlarena Angela Merkel passiert ist. Sie musste einem homosexuellen Mann sagen, dass er mit seinem Wunsch das Kindeswohl gefährde. Da prallten die beiden, nicht füreinander bestimmten Wahrheitsebenen offen aufeinander.
Das konservative Denkgebäude gibt es immer noch – es wird nur durch neue PR-Argumentationslinien verteidigt und durch die flexibel wirkenden Anpassungen Angela Merkels häufig vernebelt. Die Idee von Volker Pispers bei „Neues aus der Anstalt“, stimmt nur teilweise: Angela Merkel habe erkannt, dass die Deutschen die Demokratie gar nicht wollen, sondern lieber eine aufgeklärte Monarchin hätten. Daher lasse sich Angela Merkel Queen-Mum-mäßig in ihrer Sänfte durchs Land tragen und interessiere sich eigentlich nicht dafür, wohin die Reise gehe, ja vielmehr noch, sie habe eigentlich auch gar kein Interesse an Politik, sondern nur an ihrem eigenen Machterhalt. Das impliziert, dass Angela Merkels Politik beliebig sei. Das ist sie aber nicht. Sie entstammt dem konservativen Denkgebäude und ist immer eine Politik im Interesse des reichsten Zehntels der Gesellschaft.
Aber vielleicht ist das Bild der Königin in ihrer Sänfte an dieser Stelle ja doch stimmig: Auch der König vertrat nur seine eigenen machtpolitischen Interessen und die der obersten Schicht. Und vielleicht ist es heute auch noch so: Die Wahrheit am Hofe ist eine andere Wahrheit als die des Fußvolkes.