Ich habe die unsägliche Angewohnheit, dass ich immer wieder versuche, Menschen in Schemata zu pressen, sie als Schemen verstehen zu wollen. Das bringt keinen Erkenntnisgewinn, schult aber die Wahrnehmung von Kleinigkeiten. An anderer Stelle habe ich bereits betont, dass selbst niesen und applaudieren den Schlüssel zur Person in sich bergen.
Lange Zeit habe ich die folgende Unterscheidung zu perfektionieren versucht: In Gesprächen gibt es den Wissenstypen, den Geschichtentypen und einen unbestimmten, noch nicht identifizierten dritten oder vierten Typen. Die ersten beiden Typen sind sehr klar antreffbar.
Der Wissenstyp findet im Gespräch Anschluss, indem er die Fakten, die er insbesondere in Wissensmagazinen oder ähnlichem aufgesogen hat, bei bestimmten Ankerreizen wieder ausspuckt. Man kann zum Beispiel erzählen, dass man Heuschnupfen hat und er antwortet, dass der Präsident von Bolivien auch Heuschnupfen habe, aber speziell drei Knaben beschäftige, die die Pollen mit wie Palmwedeln aussehenden Luftfiltern aus der Luft entfernen. Bevor man nun etwas anderes sagen könnte, würde er den selbst gesetzten Ankerrreiz „Bolivien“ nutzen und anmerken, dass die Ölproduktion verstaatlicht worden sei. Da diese Information aber allen zugänglich war, muss sie mit Insiderwissen veredelt werden: Was aber nicht in den Medien steht, ist …
Der Geschichtentyp arbeitet nach ähnlichen Prinzipien: Er durchforstet jeden kleinen Satz des Gegenübers nach tragfähigen Haken, um mit den eigenen Geschichten das Gespräch zu entern und zu besetzen. Man erzählt zum Beispiel, dass man Heuschnupfen hat, dann wird das Gespräch über den „Heuschnupfen“ geentert: Ich kannte auch mal jemanden, der ganz schlimmen Heuschnupfen hatte, aber auch sehr gläubig war und dachte, es wäre eine Strafe Gottes, daher spendete er bei jedem Niesen einen Euro der katholischen Kirche. Die Kirche aber nahm das Geld nicht an, weil sie keine Spendenquittung ausstellen konnte, weil der Pfarrer immer dann gerade krank war, als mein Freund Heuschnupfen hatte. Er hatte eine seltene Form von Frühlingsdepression. Beim Geschichtentyp ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass er sich in der Komplexität seiner Erinnerung verliert und immer mehr Details herauskramt, die für ihn zwar schöne Nebenerinnerungen sind, aber nicht zur eigentlichen Geschichte passen. Pointen sind beim Geschichtentypen eher die Ausnahme, er glänzt nicht durch Skurrilität der Information, er versichert sich Aufmerksamkeit durch den persönlichen Bezug zum Erzählten.
Das war meine bisherige unvollständige Typologie. Kaum entwickelt war der Fragetyp, der passende Komplementärtyp zu den beiden Anderen. Oft findet sich jemand in deren unmittelbarer Nähe, der sie durch geschicktes Fragen und zurückstellen der eigenen Persönlichkeit dazu ermuntert, alles Angestaute herauszulassen.
Heute hatte ich zusätzlich die Idee, dass es einen Unterschied zwischen Menschen gibt, die entweder Gedanken oder Erlebnisse mitteilen. Ich vermute, dass im Leben der meisten Menschen präsentierbare und originelle Gedanken – wie bei mir auch – selten sind. Trotzdessen habe ich die paar Einfälle schätzen gelernt und präsentiere sie auch immer ganz stolz. (Heute beispielsweise blickte ich auf ein Plakat der OB-Kandidatin Gudrun Lukin und entdeckte, dass in ihrem Namen „gud lukin“ (good looking) versteckt ist, was auf sie nur bedingt zutrifft.) Dementgegen sprechen die meisten Menschen wohl eher von ihren Tageserlebnissen, von ihren alltäglichen Geschichten, ohne darüber groß zu reflektieren. Es ist auch ein schreckliches Bild des Älterwerdens, wenn man nur noch den Alltag wiederkaut, ohne ihn mit den eigenen Gedanken zu garnieren.
Das Aussprechen eigener Gedanken ist, wenn nicht verpönt, so doch ungewöhnlich. Ich bezweifle allerdings, dass es am Mangel liegt – irgendwas müssen die Menschen den ganzen Tag auch denken. Das können nicht nur die weiteren Tagesaufgaben oder ihre kleinen Sörgchen sein. Vielleicht erwartet man nicht, dass der Andere Einen versteht, vielleicht ist es die Angst sich zu entblößen. Sicher ist nur, dass die Wahrscheinlichkeit des Verstehens bei Erlebnissen größer ist. Aber Gedanken können so viel schöner, so viel kreativer sein. Sie sagen sehr viel mehr über den Menschen, über seine Wahrnehmung aus, als es seine Geschichten je könnten.
Ein Beispiel, was mich sehr beeindruckt hat: In unserem Bad steht eine Reinigungsmilch – mit „Lemongras und Ginger“, wie das Etikett verkündet. Meine Mitbewohnerin sagte darüber, dass sie, als sie das las, unwillkürlich an ein Stadion denken musste. Auf zwei Sitzen an den weitest voneinander entfernten Ecken sitzen „Lemongras“ und „Ginger“, alle anderen Plätze sind restlos gefüllt mit stinknormalen Seifenteilchen.