Neulich bin ich mit einem Flixtrain gefahren. Das war in mehrerlei Hinsicht ein erstaunliches Erlebnis. Zunächst: Das Zugpersonal war scheinbar direkt aus Türstehern einer Dorfdisco rekrutiert worden. Auf einer Toilette war während der Fahrt geraucht worden. Nun drohte das Personal über die Lautsprecher dem Täter: „Wir werden dich kriegen! Wir haben Kameras! Du entkommst uns nicht!“ Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich nicht gewusst, wie voraussetzungsreich, ja fast eloquent die Durchsagen von normalen Schaffnern in den Zügen der Deutschen Bahn doch sind.
Aber in einer anderen Hinsicht war die Reise mit dem Flixtrain auch beeindruckend: Es handelte sich um einen alten Zug der deutschen Bahn, der früher für Fernreisen eingesetzt worden war und in dem man die Fenster noch öffnen konnte (wenn auch im Gegensatz zu früher nur fünf Zentimeter weit). So entstand eine sympathische Atmosphäre wie beim Reisen vor 30 Jahren: Man hörte die Schienen und spürte den Fahrtwind. Allerdings fuhr der Zug dabei auch erstaunlich schnell – man hörte das Quietschen in den Kurven und spürte das Rattern und die Geschwindigkeit im ganzen Körper. Dabei wurde mir bewusst, wie sehr es den modernen Mobilitätsdienstleistern gelungen ist, das Gefühl für Geschwindigkeit verschwinden zu lassen: Du sitzt in einem ICE und spürst nicht, dass der Zug 300 Kilometer pro Stunde fährt. Du sitzt in einem Mercedes und merkst nicht, dass du schon 180 Kilometer pro Stunde fährst. Du fliegst mit 800 Kilometer pro Stunde über den Wolken und spürst es kaum – vielleicht gerade noch bei der Landung. Nur an den Rändern, nur dort, wo die Zeit ausgebremst wurde – sei es aus Sparsamkeit oder aus Liebhaberei – dort merkt man die Geschwindigkeit noch: In einem alten Auto, einem alten Zug oder einem alten Flugzeug.
Wenn man die Entwicklung der Fortbewegungsmittel des Menschen historisch betrachtet, so verlief diese zunächst sehr langsam: Von der Antike bis ins 18. Jahrhundert stellte die Pferdekutsche das schnellste Fortbewegungsmittel mit maximal acht Kilometern pro Stunde dar. Im 19. Jahrhundert ermöglichten die Dampfmaschine und später der Verbrennungsmotor wesentlich höhere Geschwindigkeiten. Das Geschwindigkeitsempfinden des Menschen musste jedoch erst an diese Steigerung gewöhnt werden: Die ersten Eisenbahnen im 19. Jahrhundert fuhren schon 30 Kilometer pro Stunde. Mitte des 20. Jahrhunderts konnten die schnellsten Züge bereits über 300 Kilometer pro Stunde fahren. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts war dies in Deutschland dann auch eine normale ICE-Geschwindigkeit.
Diese Steigerung der Geschwindigkeit war in meinen Augen nur möglich, indem man das Gefühl dafür verschwinden ließ. Einer der ersten Schritte auf diesem Weg war die Entfremdung von der Erzeugung der Geschwindigkeit: Durch das einfache Drücken des Gaspedals im Auto kann man bis zu 300 Kilometer pro Stunde fahren. Eine solche Geschwindigkeit könnte durch reine Muskelkraft weder erreicht noch langfristig aufrechterhalten werden.
Wichtiger als diese eher abstrakte Entfremdung war jedoch, dass der Mensch von der vorbeirauschenden Umwelt abgekapselt und ihr Einfluss auf ihn abgefedert wurde. Daher ist es ziemlich plausibel, dass in modernen Zügen die Fenster nicht mehr geöffnet werden können: Wer seine Hand oder seinen Kopf bei einer Geschwindigkeit von über 100 Kilometern pro Stunde aus dem Fenster hält, wird deutlich die Geschwindigkeit spüren – und einen Respekt, wenn nicht sogar eine Angst vor dieser hohen Geschwindigkeit entwickeln. In modernen Fortbewegungsmitteln gibt es daher keinen Kontakt mehr zur Außenwelt: Dazu gehört zum einen, dass diese immer besser abgefedert werden gegen mögliche Unebenheiten der Strecke, zum anderen aber auch, dass ein eigenes Raumklima geschaffen wird, um völlig unabhängig von der Außentemperatur zu reisen.
Aber nicht nur die Fortbewegungsmittel wurden geschwindigkeits-unsensibler gestaltet, sondern auch die Fahrstrecke wurde verändert: Sie wurde entnaturalisiert und begradigt. Nur auf schnurgeraden und ebenen Autobahnen oder Zuggleisen ist es möglich, dass Menschen hohe Geschwindigkeiten vergessen können – auf einer schmalen Bergstrecke in den Alpen wäre das nicht möglich. Der effektivste Weg aber ist der Tunnel: Da die Menschen dort auch ihrer visuellen Eindrücke beraubt werden, können sie gar kein Gefühl mehr für die Geschwindigkeit entwickeln. Es ist daher auch kein Zufall, dass immer wieder Transport-Utopien beschrieben werden, in denen Menschen mit enormer Geschwindigkeit in Kapseln durch Tunnel geschossen werden.
Solange diese Utopien jedoch noch nicht umgesetzt sind, kann die zunehmende Unsichtbarmachung der Geschwindigkeit auch einige Gefahren bergen. Wenn immer mehr Menschen beispielsweise in einem panzerähnlichen SUV in der Stadt 50 Kilometer pro Stunde fahren und es sich für sie so anfühlt, als ob sie auf der Couch im eigenen Wohnzimmer säßen, kann das eine tödliche Fehlwahrnehmung sein – zumindest für Fußgänger und alle anderen schwächeren Verkehrsteilnehmer. Vielleicht wäre es dann mal wieder an der Zeit, mit einem Fahrrad auf einer holprigen Buckelpiste den Berg herunterzufahren, eine schmale Serpentinenstraße mit einem alten VW-Bus zu durchkurven oder eine längere Strecke mit dem oben genannten Flixtrain zu fahren – dann könnte man nämlich spüren, wie schnell 50 Kilometer pro Stunde wirklich sind.
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